Der Mensch und das Meer

Rezension von Wolfgang Borchardt

Professor Callum Roberts, ein Meeresbiologe der Umweltabteilung der University of York, hat schon 2012 ein umfassendes Werk unter dem Originaltitel Ocean of Life. How our Seas are Changing herausgegeben. Selbst sagt er darüber: „ Mein erstes Buch …beschäftigte sich mit tausend Jahren aus der Geschichte des Meeres, und seine Bühne war die ganze Welt … und als ich fertig war, hatte ich vor, mich an eine weniger umfangreiche Arbeit zu machen. Aber mein Agent und … mein späterer Lektor … überredeten mich, etwas noch Größeres in Angriff zu nehmen: die Geschichte der Ozeane von den Anfängen der Welt bis zu ihrer möglichen Zukunft in hundert Jahren.“ Die Deutsche Ausgabe umfasst 588 Seiten und – soweit ich das beurteilen kann – alle relevanten Wechselwirkungen von Mensch und Meer. In zweiundzwanzig Kapiteln betrachtet er die Entwicklung der Ozeane seit ihrer Entstehung und das Meer als eine der frühesten menschlichen Nahrungsquellen. Doch schon im dritten Kapitel Weniger Fische im Meer bringt er eine für mich erschreckende Grafik, in der er zeigt, dass die angelandete Menge Fisch je Einheit Fischereikapazität von 1889 bis 2007 auf weniger als zehn Prozent des Ausgangswertes gefallen ist. Auch die Einführung der gemeinsamen EU-Fischereipolitik und Abkommen mit Entwicklungsländer zur Nutzung ihrer Fischbestände konnte die Situation nicht bessern, sondern nur stabilisieren. Hier wird deutlich: Roberts ist nicht in erster Linie Naturschützer; er sieht das Meer auch als Gegenstand wirtschaftlicher Tätigkeit, doch er ist Wissenschaftler – und er ist frei von wirtschaftlichen Interessen der Fischereilobby.

Nüchtern und sachlich behandelt er Wind und Strömungen, Meeresspiegelanstieg, Versauerung und die Entstehung toter Zonen der Ozeane sowie den Zusammenhang mit menschlichen Einwirkungen durch Abwässer, Chemikalien, Dünger und Kunststoffe, die durch Flüsse in die Meere gelangen. Roberts zeigt, dass all das Stressfaktoren sind, die die Meerestiere aller Stufen in der Nahrungskette beeinträchtigen und die natürliche Reproduktion zusätzlich zur Überfischung mindern.

Das elfte und zwölfte Kapitel behandeln die Auswirkungen der Schifffahrt: die Verlärmung der Ozeane, die vor allem die Kommunikation der großen Säuger – bis hin zur Partnersuche und Fortpflanzung – behindert und den Transport von Arten in Gebiete, in denen sie vorher nicht vorkamen. Verschiedene Lebensräume der Ozeane werden miteinander verbunden, Arten sehen sich plötzlich mit Feinden konfrontiert, die es für sie bisher nicht gab; sensible bleiben auf der Strecke. Das ist gewissermaßen die Globalisierung unter der Oberfläche. Doch wie soll mit Eindringlingen umgegangen werden? Vernichtung mit der „chemischen Keule“? Nur in der Anfangsphase ihrer Verbreitung können Eindringlinge erfolgreich bekämpft oder wenigstens unter Kontrolle gehalten werden, doch einige Naturschützer vertraten bis vor Kurzem eine kompromisslose Haltung und wollten auch vor bis zu 500 Jahren eingedrungene Arten ausrotten. Roberts fragt mit Recht: „Wo soll man die Grenzte ziehen?“ Er sieht die Hauptgefahr in der Reduktion der Artenvielfalt und plädiert für vorbeugende Maßnahmen: „Arten nicht mehr außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebietes zu züchten“ (Aquakultur), „unerwünschte blinde Passagiere“ im Ballastwasser der Schiffe mit Motorenabwärme oder UV-Licht abtöten usw. Am Beispiel des Verbotes giftiger Anstriche der Schiffshaut zeigt er die Notwendigkeit international abgestimmten Handelns.

Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit der Ausbreitung von Krankheiten in den Ozeanen. Epidemien breiten sich durch Meeresströmungen viel schneller aus, als an Land und durch Umweltgifte wie PCB oder DDT und andere Stressfaktoren sind die Tiere, insbesondere langlebige, größere Fische und Säuger stärker geschwächt und bedroht. Doch es geht ihm nicht um einzelne Arten. Wie ein roter Faden ziehen sich Begriffe wie Ökosystem, Komplexität, Lebensraum, Nahrungsnetz (nicht nur -kette!) durch das ganze Buch, denn die Vielfalt und Komplexität der unterseeischen Flora und Fauna ist eine wesentliche Voraussetzung für ozeanische Produktivität – im biologischen, aber auch im ökonomischen Sinn – und Stabilität gegenüber wechselnden Umwelteinflüssen. Das beweist Roberts mit einer erdrückenden Vielfalt von Beispielen über die Dezimierung und das Sterben einzelner Arten und die Verarmung bis hin zum Zusammenbruch ganzer Ökosysteme in einzelnen Regionen der verschiedensten Weltmeere. Daher plädiert er für die Einrichtung von Schutzgebieten zum Erhalt auch der Arten, die für uns (noch?!) keine wirtschaftliche Bedeutung haben – auch wenn die meisten Menschen die Notwendigkeit nicht einmal ahnen: „Wenn alles den Bach runter geht, so sagen sie, warum habe ich dann den Eindruck, dass mein Leben immer besser wird? … (»Umweltschützer-Paradox«)“. Verschiedene Antworten werden diskutiert, bis er zum Schluss kommt: „Unheilvoller ist die letzte Erklärungsmöglichkeit: Wir haben den wirklichen Preis für unser Handeln noch nicht zu spüren bekommen, aber die Rechnung ist bereits unterwegs.“

Die Bewirtschaftung der Meere durch Fischerei und Aquakultur stellt eine Notwendigkeit dar. Allerdings gibt es Fangmethoden, die durch übermäßigen Beifang – der vernichtet wird oder bereits im Wasser verendet – oder durch Grundschleppnetze und Muschelbagger nicht nur die gewünschten Arten fangen, sondern alles Leben am Meeresboden zerstören. Diese müssen verboten werden. Auch Aquakultur ist differenziert zu betrachten. Während sich Muscheln und Austern selbst durch Filtration des Wassers ernähren, werden insbesondere Raubfische, z.B. Lachse mit großen Mengen speziell zu diesem Zweck gefangener Fische gefüttert. Das Ergebnis: „Manchmal braucht man mehrere Kilogramm wild gefangene Fische, um nur ein Kilo Zuchtfisch zu erzeugen.“ (Anmerkung des Rezensenten: Da die „Futterfische“ auch direkt der menschlichen Ernährung dienen könnten, hat diese Situation gewisse Parallelen zum Essen Fleisch. Auch für die „Fleischproduktion“ wird vor allem in der Massentierhaltung viel Futter gebraucht, das der direkten menschlichen Ernährung entzogen wird.) Ein weiterer Aspekt der Fischfarmen ist die hohe Besatzdichte und der dadurch erforderliche Einsatz von Medikamenten – die auch in das offene Meer gelangen. Dennoch werden die Bestände in den Fischfarmen von agressiveren Krankheiten heimgesucht, als die Fische der gleichen Art in freier Wildbahn. Die Erreger passen sich an und entwickeln Resistenzen (Anm.: wie Krankenhauskeime) und können sich in den Ozeanen ausbreiten. Die Lösung besteht in der Trennung des Wassers in den Farmen vom offenen Meer.

Am Klimawandel kommt auch Roberts nicht vorbei. Er untersucht verschiedene Möglichkeiten Energiegewinnung aus dem Meer und der Erdabkühlung, darunter auch geotechnische Verfahren, und verweist dann auf die risikofreie Alternative: „Gesunde, natürliche Ökosysteme sind Kohlenstoffabflüsse, die der Atmosphäre das Kohlendioxid entziehen und in Sedimenten, Torf und Carbonatgestein binden.“ Das wird mit Zahlen belegt und festgestellt: „Wenn wir den Verlust heute aufhalten würden, hätte dies wahrscheinlich die gleiche Wirkung wie die Emissionsminderung um zehn Prozent, die notwendig wäre, um die Erwärmung bei zwei Grad oder weniger zu halten.“

Drei Kapitel beschäftigen sich mit: Ein »New Deal« für die Meere, Das Leben sanieren und Die Riesen der Meere retten. Die Aussagen münden in das Schlusskapitel Vorbereitung auf das Schlimmste. Gründe für eine „große Neuorganisation des Lebens auf unserem Planeten“ sind das Bevölkerungswachstum, die „globale Erwärmung“ (Anm.: die besser Erderhitzung genannt werden sollte), der Meeresspiegelanstieg und Vernichtung fruchtbarer Landstriche, die Versauerung der Meere sowie schwindende Möglichkeiten, die Bedürfnisse zu erfüllen mit der Konsequenz von Kriegen. Der Erhalt des Lebens in den Meeren kann uns helfen, die Schäden zu minimieren. Dazu sind vernetzte Schutzgebiete an Stellen nötig, die für die Reproduktion besonders wichtig sind; insgesamt sollten diese Gebiete möglichst ca. 30% (mindestens 10%) der gesamten Fläche umfassen.

Ein Epilog „Meere der Zukunft, Zukunft der Meere“ und zwei Anhänge „Lebensmittel aus dem Meer mit gutem Gewissen genießen“ und „Organisationen, die sich für den Schutz des Lebens in den Ozeanen einsetzen“, 58 Fotos, 57 Seiten Anmerkungen und zwölf Seiten Register runden den Band ab.
Abschließend möchte ich drei Dinge hervorheben: Die Breite der Themen, von denen Roberts selbst sagt: „von denen ich vorher nicht einmal wusste, dass es sie gibt“ und die Gründlichkeit ihrer Behandlung – die von einem Wissenschaftler auch zu erwarten war. Vor allem aber beeindruckt die sachliche, dabei nicht emotionslose Sprache. Es gelingt ihm, die Probleme einfach, verständlich und eindringlich zu beschreiben. Roberts verwendet kaum Hervorhebungen oder Ausrufezeichen, um die Wichtigkeit ihrer Lösung deutlich zu machen. Gerade dadurch ist sein Plädoyer besonders eindringlich.

Manche der Geschichten, die ich in diesem Buch erzählt habe, sind entmutigend, und noch düsterer wird das Bild unserer Zukunft, wenn wir unseren Kurs unbekümmert beibehalten. … Mittlerweile haben viele Menschen erkannt, welchen Einfluss unser Handeln auf und unter dem Meer hat. Derzeit laufen unzählige Projekte, mit denen man die Schäden beseitigen will. … Das ist der Grund, weshalb ich optimistisch bleibe. Wir können etwas ändern. …
Die Alternative wäre unser Untergang.

Prof. Callum Roberts: „Der Mensch und das Meer. Warum der größte Lebensraum der Erde in Gefahr ist“; DVA, 2013, 592 S., 58 Abbildungen, ISBN-13: 9783421044969