Birgt sie keine Chance auf eine bessere Zukunft?
Friedrich W. Sixel
Zur Beantwortung dieser Frage hat der Durchschnittsbürger kaum eine andere Möglichkeit als die, davon auszugehen, was über Entstehung und Konsequenzen dieser Krise in den Medien verkündet wird. Vielleicht gelingt es ihm ja, sich daraus einen Reim zu machen.
Demnach ist die Finanzkrise dadurch entstanden, dass Kredite vergeben worden sind, deren Finanzierung den Kreditnehmern unmöglich war oder wurde. Anrechte auf die Zahlung bzw. die Zinsbedienung dieser Schulden sind auf dem Finanzmarkt weltweit gehandelt worden ( „Derivate“ ). Auf diese Weise wurden von großen Banken ungeheure Zahlungserwartungen akkumuliert. Als die primären Kreditnehmer aus Gründen, die uns gleich kurz beschäftigen werden, ihre Zahlungsunfähigkeit erklären mussten, erwies sich das erwartete, aber nur papieren akkumulierte Kapital der Kreditgeber als bloßer Schein. Banken wurden zudem „mangels Masse“ unfähig, weitere Kredite zu gewähren, oder die Kredite zu bedienen, die sie selbst aufgenommen hatten, um am Finanzmarkt agieren zu können. Als Folge wurden Kredite selbst da nicht mehr gewährt, wo einerseits Gelder vorhanden waren und andererseits der potentielle Kreditnehmer Bonität zu haben schien. Der Kreditfluss, ohne den, so wird uns gesagt, die herrschende Wirtschaftsform nicht funktionieren kann, versiegte bedrohlich.
Etliche der riesigen Kreditbanken, die durch das gegenseitige Kaufen und Verkaufen von Krediten aller möglichen Art miteinander verbunden waren, gingen pleite oder mussten durch staatliche Finanzhilfe vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Da aber auch Kredite an die „reale Ökonomie“, also an Produzenten materiell konkreter Güter knapp wurden, geriet auch dieser Wirtschaftsbereich in Schwierigkeiten. Das Herunterfahren der Produktion wurde schon aus diesem Grunde unausweichlich.
Die Unfähigkeit, aufgenommene Kredite zu bedienen, hatte zuerst auf der Konsumentenseite, und zwar auf dem US-Immobilienmarkt, eingesetzt. Hypotheken, zunächst „sub-prime“ aufgenommen, verteuerten sich, nicht zuletzt nach deren Weiterverkauf seitens primärer Kreditgeber an die nächsten. Mit spätestens von da an nicht mehr bezahlbaren Hypotheken belastet, mussten die betroffenen Familienhäuser aufgegeben werden („foreclosures“) und wurden seitens der Banken auf den Markt gebracht. Da Käufer für Immobilien aber kaum zu finden waren, verfiel deren Marktwert rapide. Das einsetzende Absacken des Finanzvolumens der daran beteiligten – und weltweit verbundenen – Banken leitete die internationale Finanzkrise ein und verbreitete sich in der eben skizzierten Weise auf alle Wirtschaftsbereiche.
Die Verschuldung der primären Kreditnehmer war (und ist) keineswegs auf den Immobilienmarkt beschränkt. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass US-amerikanische Haushalte auf ihren Kreditkarten durchschnittlich 8-9000 Dollar Schulden haben. Diese Schulden werden oft dadurch „beglichen“, dass man mit der einen Kreditkarte die Schulden der anderen bezahlt. Trotz der exorbitanten Zinsen im Kreditkartenwesen, hat das zu Schwierigkeiten bei entsprechenden Finanzinstituten geführt. American Express z. B. soll der Bankrott drohen.
Der aus diesen und anderen Gründen notgedrungener Weise einsetzende Rückgang im Kaufgebaren der Konsumenten bedrohte schnell den Absatz von Industrieprodukten. Die Autoindustrie z. B. ist bei weitem nicht nur in Nordamerika gefährdet und bedarf wie etliche Banken der staatlichen Finanzhilfe. Auch die Hersteller anderer, vor allem langfristiger Produkte wie etwa Kühlschränke und Spülmaschinen beginnen „auf Halde“ zu produzieren. Einsetzende oder nur drohende Entlassungen von Arbeitnehmern, also von Konsumenten, dienen selbstverständlich nicht der sogenannten „Konjunktur“, ganz zu schweigen von deren „Wachstum“. Ohne Wachstum aber kommt die herrschende Wirtschaftsform nicht aus. Ohne Wachstum kein Kapitalismus, schon gar kein Finanzkapitalismus!
Hier soll der Staat nun retten, was zu retten ist. Ein Bündel von Hilfsmaßnahmen wird von der Wirtschaft gefordert, vom Staat angeboten und zwischen beiden mit großer Umsicht, wie es heißt, verhandelt. Den Medien ist zu entnehmen, dass es bei diesen Verhandlungen vor allem darum geht, wie viel der Staat bedrohten Banken („Finanzwirtschaft“) und absatzgefährdeten Produzenten („Real-Ökonomie“) zuschießen soll und was diese Unterstützungsempfänger dafür zu leisten haben. Dem Steuerzahler, der doch letzten Endes all diese Hilfsmaßnahmen finanzieren muss, wird Klarheit hierzu aus den Medien kaum zuteil. Die Höhe der Geldsummen, die in diesem Zusammenhang genannt werden und zur Behebung der angerichteten Finanzschäden erforderlich sein sollen, scheinen zwar zwischen den einzelnen Staaten und auch von Zeit zu Zeit zu schwanken, liegen aber durchgängig in der schwindelerregenden Höhe von Hunderten von Milliarden Euro, Dollar oder Pound. Gelegentlich sickert dann die Nachricht durch, dass diese riesigen Summen von den Regierungen nur bereitgestellt werden können, wenn sie Geld drucken lassen. Es ist aber auch die Möglichkeit nicht auszuschließen, wenngleich nicht medienkundig, dass Besitzer riesiger Vermögen dem Staat zu Hilfe kommen; wenn ja, dann kaum aus „philantropischen“ Gründen.
Bezüglich der Gegenleistungen seitens der Wirtschaft ist in den Medien vage die Rede von diesem und jenem, z. B. vom „Ende der Deregulierung“ der Finanzwirtschaft, was wohl die Einführung eingrenzender Gesetze bedeuten soll. Auch soll „mehr Transparenz“ auf den Finanzmärkten geschaffen werden, offenbar in der hoffnungsfrohen Annahme, dass dann allgemein bekannt wird, wer denn eigentlich wem, wie viel und für was schuldet. Gelegentlich wird dann auch von der einen oder anderen öffentlichen Figur vor Kamera und Mikrofon erwogen, ob die Finanzhilfe nicht als Staatsbeteiligung an den Finanz- und Produktionsunternehmen gewährt werden soll. Geschähe dies, wäre damit außer der oft geforderten gesetzlichen Kontrolle all dieser Firmen auch deren wirtschaftliche Kontrolle hergestellt. Nebenher klingt auch an, dass dann auch Umweltschutz politisch besser durchgesetzt werden könne. Daran ist gewiss Vieles plausibel, zumal man nicht vergessen sollte, dass sowohl die Banken wie auch die Unternehmer der „Real-Ökonomie“ an ihren Schwierigkeiten selbst schuld sind; die Banken wegen dubioser Kredite und die „Real“-Unternehmer wegen ihrer falschen Einschätzung des Marktes (Paradebeispiel: GM) und/oder ihrer Beteiligung an den Spielen der Investitionsbanken. Z. B. kann über die Siemens AG ironisch gesagt werden, dass sie eine Bank wäre, die nebenher auch noch ein Interesse an Elektronik habe. Selten ist jedoch davon zu lesen, zu hören oder zu sehen, dass, und wenn ja wie, diese unternehmerischen Fehler abgebüßt werden sollen.
Nun mögen all diese Machenschaften der Bosse nicht justiziabel sein, – Profit ist ja das höchste Gut, zumal nach der „De-Regulierung“ – , erstaunlich aber ist dennoch, dass darüber Volkszorn, inklusive dem der Volksvertreter, kaum laut wird, wenn er überhaupt zu vernehmen ist. Besonders der Gedanke einer einzuführenden staatlichen Kontrolle großer Unternehmen der Finanz- und „Real“-Ökononie scheint sich keiner allzu großen Beachtung und medialer Öffentlichkeit zu erfreuen. Dieser Gedanke widerspricht wohl noch mehr dem inzwischen eingetrichterten Neoliberalismus als die traditionelle Idee vom Auseinanderhalten von Politik und Wirtschaft. Wie soll man auch zwischen „Freiheit soviel wie möglich“ und „Freiheit soviel wie nötig“ abwägen ? Offensichtlich ist indes an der veröffentlichten Diskussion zur Finanzkrise, dass sie Mangel leidet an dem Gut, was sie selbst einklagen will: Transparenz. Es darf befürchtet werden, dass dies Absicht ist. Aber wir sollten in diesem Zusammenhang auch nicht unbeachtet lassen, dass dieser Mangel hingenommen wird. Liegt das am Desinteresse ? Wohl kaum, denn die aufkommenden schweren Zeiten treffen ja den Normalbürger am stärksten; und er weiß es. Es scheint sich wohl eher um eine Resignation derer zu handeln, die sich daran gewöhnt haben, keinen Durchblick mehr zu haben und sich deswegen den „Verhältnissen“ anpassen müssen. Hat der „mündige Bürger“, also der, der Durchblick verlangt und den die Demokratie voraussetzt, nicht schon seit geraumer Zeit seine Mündigkeit der Anpassungsrationalität, von der Niklas Luhmann soviel verstand, geopfert ?
Politik und Medien, darin sind sich Fachwelt und öffentliche Meinung einig, gehören nur zum Umfeld der Wirtschaft, nicht zu ihr selbst. Wenn wir das für den Augenblick einmal akzeptieren, dann können wir aber in unseren jetzigen Überlegungen immer noch davon ausgehen, dass die Wirtschaft nicht allein aus Kapital und Produktion besteht, sondern auch und in nicht geringerem Maße aus Konsum. Er wird ja auch dementsprechend unter die Lupe der Auswegsuchenden genommen. In dieser Hinsicht ist der fragende Blick offensichtlich darauf gerichtet, wie die schrumpfende Konsumfähigkeit wieder angekurbelt werden kann, um das jetzige Wirtschaftsvolumen wenigstens zu erhalten, und zwar mit dem Ziel, – so viel ist unausgesprochen klar -, es später wieder zu vergrößern. Deswegen erscheint es der Öffentlichkeit plausibel, dass nicht nur von offiziellen Vertretern der Arbeitnehmerseite „Konjunkturspritzen“ gefordert werden. So ist denn auch die Rede davon, die Staatsausgaben zu erhöhen und die Steuern zu senken, um die Rezession aufzufangen.
An dieser Stelle sei unterstrichen, dass man es allerseits als fraglos hinzunehmen scheint, dass unter der drohenden „Rezession“ das nicht hinreichende „Wachstum“ verstanden wird. Offenbar gilt Wachstum, und nach Möglichkeit ein rasantes, als Selbstverständlichkeit und wird kaum einmal hinterfragt. Auch wird höchst selten die Frage gestellt, für wen eigentlich das derzeitige Wachstum der Wirtschaft nicht hinreichend ist. Wenn man sich aber diese Frage stellt, dann kommt man sehr schnell auf die Zusatzfrage, ob denn die traditionelle Antwort auf die erste Frage, nämlich: es ist das Kapital, das Wachstum braucht, noch so ohne weiteres und so einseitig stimmt. Kann es nicht sein, dass sich heute alle darin einig sind, immer mehr zu wollen, und zwar vom Kapitaleigner bis hin zum arbeitnehmenden Konsumenten ? Es kann ja kein Zweifel sein, dass die einstige Arbeiterklasse sich in der westlichen Welt seit Jahrzehnten ins kapitalistische System integriert fühlt. „Wenn die Rechung des Chefs stimmt, stimmt meine auch“, so wurde weithin geglaubt und entsprechend Geld ausgegeben.
Außerdem fällt auf, dass beim Reden über Kapital- und Konjunkturspritzen der sonst oft angemahnte Umstand an den Rand geschoben wird, dass unsere Wirtschaft, also nicht zuletzt unsere Produktion und Konsumtion, die Natur unbehausbar zu machen droht. Muss in diesem Zusammenhang nicht mit Verblüffung notiert werden, wie sehr die Öl- und Benzinpreise seit Einsetzen der Finanzkrise gefallen sind ? Dies, so darf befürchtet werden, geschieht wohl auch nicht ohne Absicht. Soll da etwa nicht der Autoindustrie, so wie sie ist, geholfen werden, obwohl ihre Produkte bislang zu den Umweltverschmutzern gehörten ? Erst, so scheint man zu glauben, muss das gewohnte Wirtschaften wieder in Gang kommen, bevor man sich Umweltschutz wieder leisten kann, obwohl fraglos ist, dass gerade dasjenige Wirtschaften, das wir uns seit geraumer Zeit angewöhnt haben, der Verursacher unserer Umweltprobleme ist. Es ist diese an Schizophrenie grenzende Trennung von Wirtschaft und Ökologie, die es erlaubt, in der Krise des jetzt herrschenden Kapitalismus keine Chance für eine Art von Wandel zu sehen, und zwar eines solchen, der die Tür zu einer auf Dauer bewohnbaren Zukunft aufstoßen kann. Entsprechend ist von kaum jemandem zu hören, dass gerade jetzt die „Systemfrage“ gestellt werden muss und gestellt werden kann, und zwar weil das Krisen geschüttelte System offensichtlich für einen grundlegenden Wandel reif ist. Wie aber kommt es, dass die hier in so besonderem Maße zuständige Linke so wenig zu hören ist ? Zum Verstehen des herrschenden Globalkapitalismus lohnt es sich, dieser Frage kurz nachzugehen.
Meiner Beobachtung nach hat das nicht hinreichende politische Eingreifen der Linken zwei Gründe:
- Es gibt zwar Stimmen bei der Linken, die die „Systemfrage“ stellen und sie mit den scheinbar so weit auseinanderliegenden Krisen der Finanzen und der Umwelt zu verknüpfen suchen, sie sind aber wegen der nun schon üblich gewordenen Ausblendung und Marginalisierung linken Gedankengutes kaum öffentlich vernehmbar. Dies ist Konsequenz der herrschenden Medienpolitik, also Teil des globalen Kapitalismus. Diese Behinderung kann nur überwunden werden, indem die Linke die Medien unterläuft. Hier bietet sich zunächst der Weg über das Internet an. Seine intensive Nutzung könnte zu einer weit stärkeren Vernetzung und engerem politischen Zusammenschluss der erreichbaren Gruppen und Individuen führen als dies derzeit der Fall ist. Hier sei angefügt, dass Barack Obama in dieser Hinsicht ein beeindruckendes Beispiel gesetzt hat, was immer seine politischen Zielsetzungen sein mögen.
- Die Linke muss sich aber auch fragen, ob ihr Begreifen der jetzigen Krise gedanklich schlüssig und auf der Höhe der Zeit ist. Kann die Linke z. B. plausibel machen, dass es für den, der eine gangbare Zukunft will, eben nicht gangbar ist, erst die Finanzkrise mit systemimmanenten Mitteln zu überwinden, um sich danach wieder dem Umweltschutz zuzuwenden ? Oder anders, und auch allgemeiner gefragt: Wo gibt es denn eine Kritik der Politischen Ökonomie des Globalkapitalismus, die nicht nur mit Marx weiß, dass alle sozialen Beziehungen ökonomische Beziehungen sind, sondern die sich auch Klarheit darüber geschaffen hat, dass alle Beziehungen, – in dem Sinne global -, materiell konkrete Beziehungen sind, und deswegen den gesamten Naturhaushalt einbeziehen ? Dies aber ist genau das, was der Globalkapitalismus uns vorlebt und uns gleichzeitig verschleiert. Wie sonst könnte seine Politik, seine Medienpolitik zumal, und seine Denkweise unbegrenzter Flexibilität so durchgreifende materielle Folgen haben ? Diese unheimlichen Folgen beschränken sich ja offensichtlich nicht aufs bloße Geld, sondern greifen tief in die Natur hinein, nicht nur in die Natur um den Menschen herum, sondern auch in die, die er selbst ist.
Mit anderen Worten: wir hätten längst über die Dialektik von Arbeit und Kapital hinaus die von Natur und Mensch stärker durchdenken müssen. Für Karl Marx war jedenfalls deutlich, dass der Dialektik von Arbeit und Kapital die Dialektik von Natur und Mensch, – letzterer oft von ihm als „Andere Natur“ erfasst -, zugrunde liegt. Er hat diese grundlegende Dialektik nicht weiter ausgeführt, weil sie sich in der Praxis seiner Zeit primär in der Dialektik von Arbeit und Kapital manifestierte. Diese Beschränkung ist aber heute von der Praxis längst abgestreift worden. Das hat Marx kommen sehen, z. B. wenn er vom Wissen sagt, dass es schon zu seinen Lebzeiten dabei war, sich von einem Produktionsmittel zu einer Produktionskraft zu wandeln. Er sah, dass dieser Schritt die Produktivität enorm vergrößern würde. Angesichts der inzwischen rasant gewordenen Produktivität des Globalkapitalismus müssten wir uns jetzt klar machen, was denn dieses Ding „Wissen“ seiner Natur nach ist, wie es materialiter praktiziert wird und wie zu begreifen ist, dass dieses geistige Ding „Wissen“ so stark auf die Materie, die Natur einwirken kann. Ohne diese Hausaufgabe zu machen, kann eine Kritik der Politischen Ökonomie des Globalkapitalismus nicht geleistet werden.
Nun kann ein Aufsatz wie dieser hier eine solche Arbeit nicht liefern; andernorts habe ich sie versucht (1). Hier vermögen wir aber immerhin der Frage nachzugehen, wie der Globalkapitalismus sein so unbremsbar scheinendes Wachstum zustande bringt. Dabei können sehr wohl die grundlegenden materiellen Widersprüche dieser Produktionsweise zutage treten, und daraus können dann vielleicht Schlussfolgerungen für einen grundlegenden Wandel dieses Systems gezogen werden.
Angesichts des wirtschaftlichen Wachstums im Globalkapitalismus ist es üblich, die Profitgier des Kapitals, vor allem des Finanzkapitals, als Ursache zu benennen. Dies trifft gewiss zu, ist aber heute offensichtlich zu einseitig. Wie oben schon angemerkt, ist das permanente Anwachsen des Konsums genauso wichtig für das Wachsen des wirtschaftlichen Umsatzes. Fraglos wäre die steigende Akkumulation des Kapitals ohne steigenden Konsum nicht möglich. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt und zu engstirnig, nur das Finanz- und das mit ihm verwobene Produktionskapital für die Wirtschaftskrise verantwortlich zu machen. Der Konsument trägt seine Schuld an der aufkommenden Misere des „Systems“ und deswegen müssen wir uns alle einige kritische Fragen gefallen lassen.
Es geht nur wenig über die traditionelle Kapitalismuskritik hinaus, der Werbung, wie es oft geschieht, die Schuld dafür zu geben, dass die Menschen mehr und mehr und immer wieder Neues, gerade erst Entwickeltes, kaufen wollen. Die ubiquitäre Verführung zum Konsum, wie sie in der offensichtlichen Werbung und darüber hinaus praktiziert wird, z. B. in der Ausstattung, ja im gesamten Milieu etwa von Fernsehshows und vielen Kinofilmen, reizt zweifellos zu unserer Form von Konsum an und liegt genau so zweifellos im Interesse des Kapitals. Aber, so muss man sich doch fragen, hängt Verführung immer nur vom Verführer ab ? Wer verführt wird, hat zumindest nichts dagegen. Werbung übt ja keinen Zwang aus, zumindest keinen offensichtlichen. So darf sie denn in Demokratie und im Globalkapitalismus üppig florieren.
Oft wird der Erfolg der Werbung auch darauf zurückgeführt, dass der Anpassungsdruck in der Gesellschaft das Interesse am öffentlich beobachtbaren Konsum fördert. Das mag sehr wohl zutreffen, aber die eben gestellte Frage, ob zur Verführung durch Werbung nicht auch Bereitschaft bei den Verführten vorliegen muss, harrt trotzdem noch der Antwort. Es erhebt sich dann auch die weitere Frage, wie es denn kommt, dass der Anpassungsdruck jetzt eine so fatale Macht über Menschen ausübt. Statt jedoch diesen Fragen nachzugehen, scheint es ergiebiger zu sein, den jetzigen Globalkapitalismus als eine Weiterentwicklung der oben erwähnten Kooptation der Arbeit durch das Kapital zu sehen. Dieser Schritt hat sich in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg im Westen Europas vollzogen und folgte dem vorauseilenden Beispiel Nordamerikas. Jetzt ist diese Entwicklung an dem Punkt angelangt, an dem die Sucht nach Wachstum, die dem Kapital wesenseigen ist, auch den Konsum ergriffen hat. Kapitalist und Konsument sind im Globalkapitalismus von gleicher Art geworden; sie sind beide gleich auf Wachstum programmiert.
Mit einer immer noch bestehenden Phasenverschiebung zwischen Europa und Nordamerika, aber auch gegenüber vielen Bevölkerungsteilen im Rest der Welt, hat das Interesse an Immer-Mehr und Immer-Neuem dazu geführt, dass in zunehmenden Maße auf Ratenzahlung gekauft wird. Für unsere Großeltern war das Kaufen „auf Pump“ undenkbar, für einige von unserer Generation wurde es akzeptabel, weil praktisch, für die meisten ist es heute vor allem eine weitere Möglichkeit, sich mehr zu leisten und – sich dabei finanziell zu übernehmen. Auf diese Weise hat der Konsumismus in den letzten Dezennien einerseits eine neue Form der Ausbeutung mit sich gebracht, – eine vom Ausgebeuteten selbst herbeigeführte! – und andererseits dem Finanzkapital eine neue Akkumulationsmöglichkeit eröffnet. Im Verein mit anderen Kreditvergaben, z. B. bei Autokauf, Hauserwerb, etc , ganz zu schweigen von „Futures“, „Derivatives“, „Hedgefonds“ etc., konnte das Finanzkapital die führende Rolle im Globalkapitalismus übernehmen.
Es dürfte deutlich sein, dass Werbung und Anpassungsdruck das Wollen des Einzelnen beeinflussen. Angesichts des Ausmaßes der Folgen, darf gefragt werden, ob der Einzelne nicht längst vergessen hat, was er/sie denn wirklich will. Hinzu kommt noch, dass der Instrumentalismus, also das zum Prinzip gewordene Interesse an Mitteln, ohne den das Kapital und der Kapitalismus nicht sein können, ein „Um-zu“-Denken propagiert hat, das jetzt weiteste Teile der modernisierten Menschheit erfasst hat. Beim Erwerb von allem und jedem wird die Frage gestellt, wozu es denn gut sei, was man damit erreichen kann, und nicht wird gefragt, ob das Gekaufte direkten Genuss in sich selbst verspricht und so Befriedigung gewährt. Wie dem Kapitalisten der Profit von vorneherein nur Mittel zu dem Zweck sein konnte, der sich augenblicklich wieder in ein Mittel verwandeln ließ, nämlich zur Investition für mehr Profit, so gilt dem Konsumenten ein erworbenes Gut nicht zum selbst genügenden Genuss, sondern nur als Potential, als Mittel, zu etwas anderem, das dieses erworbene Gut eben nicht selbst ist. Man trinkt, um betrunken zu werden; kauft den „cool look“ oder das „coole“ Auto, um zur Clique zu gehören, oder erwirbt das tolle Haus, die 12 Meter Jacht, um die Konkurrenz zu bewirten und sichtbar auszustechen. Dies ist hier zweifellos sehr vereinfacht gesagt, aber trotzdem kann man grosso modo festhalten: Alles Erworbene ist nicht nur in der Gefahr dem Erlebnis der Befriedigung zu entgleiten, sondern es wird damit auch ein unstillbar gewordener Hunger generalisiert, also global auf Dauer gestellt. Das heißt, die Ausbeutung ist nicht nur finanziell in den Konsum eingedrungen, sie ist zur Ausbeutung des eigenen Selbst geworden, eben Selbstausbeutung.
Klar sollte sein, dass ohne das „Um-zu“-Denken dieser globalkapitalistische Albtraum verschwände, und doch gilt es noch weitere Fragen zu stellen: was passiert da eigentlich im „Um-zu“-Denken ? Welche Art von Wissen, von Weltverständnis, wird von diesem Denken produziert ? Was ist eigentlich dem menschlichen Willen widerfahren, dass er diese Art von Erkennen, Denken und Wissen hervorbringt ? Auch beim „Um-zu“-Denken kann der Wille ja nicht einfach verschwunden sein. Ist er also nur abgelenkt und verdreht ? Ohne Klärung dieser Fragen, die hier nur umrisshaft geschehen kann, bleibt eine Kritik der Politischen Ökonomie des Globalkapitalismus unmöglich und damit das Stellen der „Systemfrage“.
Wie in aller Natur geschieht auch im Menschen nichts ohne treibende Kraft. Eine, wenn auch nicht die einzige, treibende Kraft im Menschen ist der Wille. Wie immer er im einzelnen in uns entsteht, ohne unsere Körperlichkeit, ohne selbst lebendige Natur zu sein, gäbe es Willen in uns nicht. Ja, man kann mit Fug und Recht der Redensart zustimmen: „Ohne Wille läuft gar nichts“. Das gilt auch für das Erkennen, das Wissen und das Denken, also für die geistigen Fähigkeiten des Menschen: Ohne wissen zu wollen kein Wissen. Daran (unter anderem) zeigt sich, dass unser Wissen in dieser Welt verankert ist, im Willen seinen Primat hat. Wissen erwächst aus der körperlichen Natur des Menschen und kann ohne sie nicht sein. Deswegen habe ich weiter oben bewusst gefragt, welcher Art von Ding denn das Wissen ist; was Wissen also materialiter ist.
Nun kann man zweifellos einwenden, dass das Wissen ohne Bedeutung, ohne geistigen Inhalt, ein Unding wäre. Aber genau so zweifellos bleibt, dass der geistige Inhalt für und in sich selbst, also ohne von einem menschlichen Gehirn gedacht zu werden, für uns keinen Sinn hat. Als solcher ist er nicht von dieser Welt, vielleicht von einer anderen. Dieses zu unserer Welt Andere nimmt greifbare Form jedoch nur an, wenn es in der Welt erscheint, in der wir zuhause sind: in der Materie, in der Natur. Da, so weit wir sehen, nur der Mensch zur geistigen Tätigkeit fähig ist, also erkennen, wissen und denken kann, hat Karl Marx vom Menschen und nur von ihm als „Anderer Natur“ gesprochen.
Wegen dieses „Anderen“ an ihm kann der Mensch bewusst in die Natur um ihn (und in ihm) eingreifen. Aber dieses Eingreifen wäre auch unmöglich, wenn der Mensch „reiner Geist“ wäre. So bleibt der Mensch, selbst in seinem Anderssein zur Natur, ganz und gar Natur. Philosophisch gesprochen ist die Natur in der Dialektik zwischen Natur („These“) und Mensch (Antithese“) das „Vermittelnde“ bzw. das „Übergreifende“ und deswegen begreift Marx diese Dialektik als „materialistische“. Zwar ist Menschsein nur in der Natur möglich, aber der Mensch kann sie, wie heute in besonderem Maße ersichtlich, für sich unbehausbar machen, zumindest sich in die Gefahr begeben, das zu tun (2). Selbst dies liegt noch in der Natur des Menschen, und zwar in seiner Körperlichkeit, und das heißt, in seinem Willen.
Nun haben wir uns eben schon gefragt, ob es nicht gerade der Wille ist, der, obwohl er in sich reine Natur ist, im „Um-zu“-Denken seine Verkehrung erleidet. Vieles spricht dafür. Diese Verkehrung besteht darin, dass der Wille sich in diesem „Um-zu“-Denken selbst an die zweite Stelle setzt, also seinen Primat nicht ausübt. Das heißt, dass der Wille sich dazu verleiten lässt, nicht mehr auf das ihm spontan Begehrenswerte zu zielen, sondern auf das, was hinter diesem spontan Gewollten liegt. Er richtet sich also auf Objekte, die nichts anderes mehr als Mittel zu Zwecken sind, während sich diese Zwecke nach ihrem Erreichtsein auch wieder, wie wir oben sahen, in nichts anderes als Mittel verwandeln. Ein solches Begreifen kennt keine Befriedigung mehr, weil es nicht anders kann, als in allem und jedem Investierbares zu sehen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Kapitalist und Konsument nicht, allenfalls hinsichtlich der „Menge“ an Einsetzbarem, also hinsichtlich des „Vermögens“. Generell lässt sich sagen, was Marx nur ahnen konnte, nämlich dass das heutige Wissen in einem von ihm nicht erdenkbaren Maße Produktionskraft, ein mentales Kapital, geworden ist, dass es als solches „keine Hürde hinnimmt“ und sich in diesem Sinne seinem Wesen nach, also „tendenziell“ globalisiert.
Glorifizierend kann man dieses Vorwärtsdrängen als die Vollendung des Faustischen im modernen Menschen bezeichnen. Ich würde indes vorschlagen, in diesem Zusammenhang an Midas zu denken. Sein Elend scheint mir miserabler als die Tragödie des Dr. Faustus: Nichts gibt es mehr, was die „Midasse“ von heute befriedigen könnte. Ihre eigenen Hände sind von so selbstverderblicher Art, dass sie alles, was sie berühren, der Genießbarkeit und Befriedigung berauben.
Das schon beim bloßen Berühren, ja Ins-Auge-Fassen der Natur ihr zugefügte Verderben hat seinen Ursprung im Menschen: sein Erkennen, Denken und Wissen ignoriert die diesen selbst zugrunde liegende Natur. Ver-rückt von der Natur in ihm, bedroht der Mensch, was er nur als „Umwelt“, also als von ihm geschiedene Natur, erkennen kann. So lange der Mensch in diesem Sinne ver-rückt bleibt, braucht er allerdings Gesetze, um die „Umwelt“ zu schützen. Zu dieser „Umwelt“ gehört aber nicht nur die „bloße“ Natur, sondern auch die in ihm selbst und im Mitmenschen. Wo der Mensch sich derart – also falsch, weil seiner Natur widersprechend – von der Natur absetzt, bedarf es der Gesetze gegen die „Umwelt“-Zerstörung und der „Regulierung“ des Verhaltens derjenigen Mitmenschen, die per Finanz- und Produktionskapital und durch Anheizen des Konsumismus unsere Lebenswelt bedrohen. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass Maßnahmen regulierender Art hinreichend wären, uns Zukunft nachhaltiger Art zu sichern. Regeln bedürfen der kostspieligen Überwachung und benennen darüber hinaus nur den Preis ihrer Übertretung.
Gewiss müssen im jetzigen Augenblick politische und gesetzliche Schritte für den Erhalt des Wirtschaftens getan werden, aber das kann nicht alles sein. Weiß die Linke aber, was sie mit diesen Gesetzen zu verknüpfen hat, damit sie zu mehr führen, als den eingefahrenen Globalkapitalismus noch einmal zu prolongieren ? Wäre es nicht Aufgabe der Linken, die jetzt gewährten Beihilfen an die Wirtschaft so zu strukturieren, dass sie einen Weg über den Globalkapitalismus hinaus wenigstens nicht verbauen ? Mitbestimmung in den Wirtschaftszentralen seitens der Politik mit dem Ziel humaner Investitionen – im hier vorgestellten Sinne von „human“ – wäre wohl eine Mindestforderung. Sie bedeutete zwar noch keinen Systemwandel, läge aber auf dem Wege zu einem solchen. Ziel und Aufgabe zeitgemäßer linker Politik muss es letztlich sein, die falsche, aber praktizierte Dialektik zwischen einem abstrus gewordenen „Geist“ und einer dadurch zur „Umwelt“ degradierten Natur zu korrigieren, also „auf die Füße zu stellen“ und durch diesen Systemwandel der wohl verstandenen Dialektik von Natur und „Anderer Natur“, also der des Menschen, zum Leben zu verhelfen.
Nun wäre es aber immer noch falsch, weil weiterhin dem „Um-zu“-Denken verhaftet, die Einsicht in diese Dialektik nur anzuwenden. Selbst darin läge kein Fortschritt. Weiter hilft nur, aus dem Erleben der Falschheit des Globalkapitalismus heraus – und dazu ist jetzt viel Gelegenheit – sich mit denjenigen zusammenzutun, die diese Falschheit nicht nur durchschauen, sondern erleiden und aus dieser Erfahrung heraus durchschauen. Menschen dieser Art gibt es nicht wenige, aber sie sind vereinzelt und hören niemanden, der der drohenden Misere mit ihnen zusammen auf den Grund gehen will. Um „hörbar“ zu werden bedarf die Linke angesichts der hegemonialen Medien des Globalkapitalismus neuer Formen der Kommunikation. Das Internet kann, wie schon erwähnt, in diesem Zusammenhang sicher eine große Rolle spielen, aber es darf bezweifelt werden, dass das hinreichend wäre. Auch in dieser Hinsicht gibt es sicherlich noch vieles zu überlegen. Dennoch dürfte klar sein, dass die derzeitige Krise des Globalkapitalismus eine schwer zu leugnende Chance für einen Systemwandel in sich birgt.
Anmerkungen:
- Siehe Sixel, Friedrich W.: „Die Natur in unserer Kultur“, Würzburg 2003; dort insbesondere die Kapitel 4 und 5. Siehe auch: ders.: „Ist es nicht an der Zeit ? Überlegungen zum Wissen als Kapital“, in: UTOPIEkreativ, Nr. 199, 2007, pp. 395ff.
- Das Reden von der Naturzerstörung durch den Menschen hat etwas Selbstverkennendes an sich. Der Mensch wäre längst vom Erdboden verschwunden, bevor er diese Zerstörung fertig gebracht hätte. Solche, wenngleich verbreitete Rede geht also immer noch von dem Irrtum aus, dass der Mensch irgendwie über oder außerhalb der Natur stünde.