Zum Programmentwurf der Linken

Ein Diskussionsbeitrag der „Initiative Ökosozialismus

Bruno Kern

A. Begrüßenswertes

Vor allem zwei zentrale Punkte sind hier hervorzuheben, die m.E. vorbehaltlos Unterstützung verdienen:

1. Die Politik der sozialen Umverteilung, inklusive einer armutsfesten sozialen Grundsicherung, der Forderung nach Mindestlöhnen, einer gerechten Steuerpolitik etc. Die entsprechenden konkreten Forderungen sind allgemein bekannt, unter „Linken“ konsensfähig und bedürfen daher keiner langen Diskussion. Ich vermute allerdings, dass sich die LINKE selbst dessen nicht bewusst ist, dass die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in naher Zukunft bedeutender werden wird als jemals zuvor: Angesichts von insgesamt knapper werdenden Ressourcen und eines notwendigen Abschieds vom bisherigen Wohlstandsmodells gewinnt die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit umso größere Bedeutung. Es geht nicht mehr um mehr oder weniger Beteiligung am Wohlstandskuchen, sondern um essentielle Lebensmöglichkeiten unter Knappheitsbedingungen.

2. Notwendigkeit der Vergesellschaftung bzw. staatlichen Regulierung des Finanzkapitals, der Vergesellschaftung großen Bereiche der Daseinsvorsorge (inklusive Energiepolitik etc.), des großen Kapitals, Demokratisierung der Ökonomie.

Das ist der eigentliche Fortschritt dieses Programmentwurfs. Im Gegensatz zur früheren Programmatik wird man hier erstaunlich konkret. Das ist natürlich zu einem guten Teil den jüngsten Krisen zu verdanken, die eine solche systemtranszendierende Politik plausibler und leichter vermittelbar machen.

Diskutierbar wäre für mich die Frage des Belegschaftseigentums, die bereits vom Umfang her im Programmentwurf stark gewichtet wird. (Unter anderem hier wird wohl die Handschrift Oskar Lafontaines sehr deutlich) Das ist m.E. zumindest eine falsche Akzentsetzung. Belegschaftseigentum ist nicht in der Lage, die kapitalistische Konkurrenzlogik und die Widersprüche der Kapitalverwertung aufzulösen. Eine gesamtgesellschaftliche Steuerung ist nötig! (z.B. Automobilindustrie: Die Belegschaft eines Automobilkonzerns hat, auch wenn sie formal die Entscheidungskompetenz hat, kein Interesse daran, die Zurückdrängung des Autos als Massenverkehrsmittel zu fördern).

Auf viele begrüßenswerte Programmteile in den unterschiedlichen Politikfeldern (Antidiskriminierung etc.) muss hier nicht eingegangen werden, da sie im Spektrum der Linken völlig unstrittig sind.

B. Neuralgische Punkte

1. Grenzen des Wachstums? Fehlanzeige!

Zitate:

„Wir brauchen reguliertes, selektives Wachstum auf der Basis von erneuerbaren Energien.“ (Präambel)

„Drei Jahrzehnte Wirschaftswachstum sind nicht nur in Deutschland, sondern weltweit an vielen Menschen vorbeigegangen.“ (II. Krisen des Kapitalismus – Krisen der Zivilisation)

„(Die Wirtschafts- und Finanzpolitik) muss für ein sozial und ökologisch gesteuertes, selektives Wachstum sorgen und eine neue Vollbeschäftigung anstreben.“ (IV. Linke Reformprojekte –Schritte gesellschaftlicher Umgestaltung; Aktive Wirtschafs- und Arbeitsmarktpolitik)

Die Formeln „selektives“ bzw. „qualitatives“ Wachstum sind ein semantischer Betrug, solange man sie nicht konkretisiert und genauer sagt, was wachsen soll und was nicht, solange man suggeriert, dass es ein ressourcenneutrales Wachstum gibt, und solange man nicht gleichzeitig dazusagt, dass die Ökonomie im Sinne des BIP in nächster Zeit insgesamt erheblich schrumpfen wird und schrumpfen muss!

Wir haben es mit einer zweifachen Grenze des Wachstums zu tun. Die erste ist durch die kapitalistische Verwertungslogik selbst bedingt. Die innere Widersprüchlichkeit des Kapitalismus untergräbt seine eigene Basis: Der Zwang zur Kapitalakkumulation aufgrund des Konkurrenzdrucks – nunmehr auf weltweiter Stufenleiter – löst einen Produktivitätswettbewerb aus, der gleichzeitig die eigene Verwertungsbasis vernichtet. Jede neue Runde des Konkurrenzprozesses bedeutet eine Kapitalvernichtung im großen Stil, damit aber auch eine Vernichtung der Kaufkraft und der Verwertung des Kapitals. Die Finanzkrise ist letztlich nichts anderes als die vorläufige Substitution der zerstörten Kaufkraft. (Es wäre aber fatal, daraus den keynesianistischen Kurzschluss zu ziehen, das Überleben des Systems durch schuldenfinanzierte Kaufkrafterhöhung und unsinnige öffentliche Ausgaben zu sichern!)

Die zweite Grenze ist geologisch und ökologisch bedingt und stellt eine absolute Grenze dar: einerseits durch die immer knapper werdenden nichterneuerbaren Ressourcen, allen voran natürlich die fossilen Energieträger, aber auch bestimmte Erze, seltene Metalle wie Lithium etc. Andererseits durch die notwendige Einschränkung des Verbrauchs an fossiler Energie wegen der Klimakatastrophe. Eine Entkoppelung von Wachstum des BIP und Ressourcenverbrauch ist nur in einem eher bescheidenen Rahmen möglich. Deshalb sind Projekte wie etwa ein Green New Deal etc. von vornherein illusorisch („Alles hängt am seidenen Faden der Entkopplungsfrage“, hat Nico Paech treffen formuliert). Zu bedenken sind dabei auch die Rebound- und Backfire-Effekte, die Grenzen der Effizienzsteigerung, das grundsätzlich beschränkte Potential erneuerbarer Energien etc.

In Deutschland werden zurzeit 16% des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt. Strom stellt aber nur 20% unseres Gesamtendenergieverbrauchs dar! Das Transportwesen, energieintensive Fertigungen und Verfahren wie etwa die Herstellung von Zement, Aluminium, Stahl, chemische Produkte wie etwa Kunstdünger sind dabei gar nicht berücksichtigt. Auch erneuerbare Energien sind nicht CO2-neutral, sie setzen die Produktion und zyklische Erneuerung von Anlagen und Infrastruktur voraus, die derzeit nur auf der Basis fossiler Energie möglich ist. Die Energiedichte der Erneuerbaren ist wesentlich geringer als die der fossilen Energieträger. Bei ehrlicher Bilanzierung der erforderlichen Vorleistungen ist der EROI (energy return on energy invested, das Verhältnis von gewonnener zur zuvor investierten Energie also) oftmals sehr gering, wenn nicht sogar negativ. Es gibt erhebliche Speicherprobleme. Ein theoretisch vorhandenes Potenzial steht oftmals im Widerspruch zu anderen wichtigen Bedürfnissen (Landverbrauch z.B.). Die relativen Erfolge und der rasche Ausbau erneuerbarer Energien im letzten Jahrzehnt darf nicht dazu verleiten, diesen Trend einfach linear fortzuschreiben und daraus eine Erreichung des 100%-Ziels (wohlgemerkt ohnehin nur für den Strom!) bis 2050 abzuleiten. Zu Beginn wurden natürlich die besten Standorte bereits genutzt, das Potenzial nimmt also immer stärker ab, je mehr bereits erschlossen wurde. Der derzeitige Ausbau war nur möglich durch Nutzung fossiler Energien, die uns bald in immer geringerem Maß zur Verfügung stehen. Fazit: Selbst bei konsequentem Ausbau erneuerbarer Energien und einer Ausschöpfung der Effizienzpotenziale (sie werden allerdings weltweit! bis zu Ende dieses Jahrhunderts auf etwa 250 bis maximal 330% eingeschätzt) haben wir in den kommenden Jahrzehnten wesentlich weniger Nettoenergie zur Verfügung. Für das Wirtschafswachstum im Sinne des BIP bedeutet das eine rasche Abnahme der Wachstumsraten mit Erreichen des Peak-Oil und in der Folge eine permanente Depression. (Zur detaillierteren Begründung vgl. Bruno Kern, „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, zu finden auf der Homepage: www.oekosozialismus.net)

2. Fortsetzung des Wachstumswahns mit anderen Mitteln: der Keynesianismus als eine der Säulen der Politik der LINKEN

Zitate:

„Wir brauchen einen Richtungswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie muss für ein sozial und ökologisch gesteuertes selektives Wachstum sorgen, und eine neue Vollbeschäftigung anstreben. Dazu muss die inländische Nachfrage durch eine Umverteilung zugunsten kleiner und mittlerer Einkommen und eine Ausweitung öffentlicher Leistungen gestärkt werden.“ DIE LINKE fordert große öffentliche Zukunfts- und Investitionsprogramme in Bildung, in soziale, ökologische und Verkehrsinfrastruktur. Dies schafft Nachfrage und Beschäftigung in privaten Unternehmen ebenso wie im öffentlichen Dienst.

„Zugleich verschärfen die Abkoppelung der Löhne von der Entwicklung der Produktivität und sinkende Sozialeinkommen das Problem industrieller Überkapazitäten und entmutigen reale Investitionen … Drei Jahrzehnte des Wachstums sind nicht nur in Deutschland, sondern weltweit an vielen Menschen vorbeigegangen.“ (Finanzblase und soziale Spaltung)

„ Die Wirtschafts- und Finanzpolitik muss Vollbeschäftigung anstreben, die inländische Nachfrage stärken und für eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung sorgen.“ (Eine wirkungsvolle demokratische, soziale und ökologische Rahmensetzung)

„Wir wollen regelmäßige Lohnzuwächse, die mindestens den Produktivitätszuwachs und die Preissteigerungen ausgleichen.“

Hier wird der Keynesianismus, ohne als solcher benannt zu werden, als eine der „Grundsäulen“ der Politik der LINKEN (Oskar Lafontaine) etabliert. Über die Tragfähigkeit keynesianistischer Konzepte unter den heutigen Bedingungen, über die Grenzen nationaler Steuerung und die Möglichkeit eines globalen Keynesianismus etc. wäre viel zu diskutieren. Ich beschränke mich hier lediglich auf einen, für mich allerdings den entscheidenden Aspekt: Der Keynesianismus kennt keine Grenzen des Wachstums.
Der Geist des Keynesianismus steht im grundsätzlichen Widerspruch zum Geist des ökologischen Gleichgewichts (Nachhaltigkeit). Die These z.B., dass in entwickelten Industriegesellschaften Sparsamkeit etwas Schlechtes ist, weil sie eine Ursache der Arbeitslosigkeit ist (Sparparadoxon), kann nicht vereinbart werden mit dem Ziel des nachhaltigen Wirtschaftens. Im Keynesianismus ist kein Platz für sparsamen Umgang mit Ressourcen, kein Platz für Verzicht auf überflüssigen Konsum. Im Gegenteil: Keynes hatte, wenn nötig, nichts gegen Ressourcenverschwendung – Kathedralenbau, Pyramidenbau, Löcher graben –, um die Gesamtnachfrage zu erhöhen. Allerdings hatte er geglaubt, dass sich eine vernünftige Gesellschaft nicht von solchen verschwenderischen Ausgaben abhängig machen würde und dass solche Ausgaben aus den Ersparnissen der Gesellschaft finanziert würden. Sein Vertrauen in die Vernunft der modernen Gesellschaften hat sich als ein Irrtum erwiesen. Viele verschwenderische Projekte werden von seinen Anhängern gefordert und vom Staat gefördert. Eine Industriegesellschaft ist heute eine Wegwerfgesellschaft.
Wir können Keynes seine kurze Sicht der Dinge verzeihen. Aber die Ökologie-Blindheit der heutigen Keynesianer ist unverzeihlich. Sie fordern für den Umweltschutz Erhöhung der staatlichen Geldausgaben, die gleichzeitig das Wirtschaftswachstum fördern soll, also unweigerlich zu mehr Ressourcen- und Umweltverbrauch führt – es sei denn, man geht von der Annahme aus, dass zusätzliche Einkommen ausschließlich in so immaterielle Dinge wie Museumsbesuche und Seelenmessen investiert würden. Während Keynes solche Ausgaben aus den Ersparnissen der Gesellschaft finanzieren würde, wollen die heutigen Keynesianer zu dem Zweck in aller Welt Geld leihen und sogar die Geldmenge durch die Willkür der Zentralbank erhöhen lassen. Verschuldung ist aber nichts anderes als antizipiertes Wachstum. Von Grenzen des Wachstums scheinen die Keynesianer überhaupt nichts gehört zu haben. Der Keynesianismus – einerlei, ob als nationaler oder globaler – bleibt ein Programm für die Fortsetzung des Wachstumswahns in schon überindustrialisierten Ländern. Er schlägt nur eine andere Strategie dafür vor.
Nehmen wir zum Beispiel das Memorandum 2005 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Auf das Argument der Neoliberalen, die in öffentlicher Verschuldung einen ungedeckten Wechsel zu Lasten künftiger Generationen sehen, erwidert die Gruppe:

„… öffentliche Defizite …. gehen nicht zu Lasten künftiger Generationen: Diese erben mit den Schulden auch die Ansprüche auf Zinsen und Rückzahlung – und sie erben überdies eine durch staatliche Investitionen gestärkte Grundlage wirtschaftlicher Entwicklung.“ (Arbeitsgruppe 2005: 7).

Die gesamte Diskussion über die Energie- und Ressourcenproblematik scheinen die Keynesianer verschlafen zu haben. Die künftigen Generationen werden leere Ölquellen, unrentabel gewordene Kohlenbergwerke, erodierte Böden, verfallende Häuser und, kurz gesagt, eine verwüstete Biosphäre erben, wenn der Wachstumswahn so weitergeht. Und da noch keine erneuerbaren, umweltfreundlichen, preiswerten und üppigen Energiequellen in Sicht sind, steht uns eine Renaissance der Atomenergie bevor. Da werden die künftigen Generationen auch Berge von atomarem Müll und Ruinen von Atomkraftwerken erben.
Peter Bofinger, der derzeit wohl prominenteste Keynesianer unter den deutschen Ökonomen, ignoriert diese Fragen zumindest nicht völlig. Aber in seinem Buch „Wir sind besser als wir glauben. Wohlstand für alle“ widmet er dem Thema nur zwei Seiten. Nachdem er seine Vision einer Verdoppelung des Wohlstands durch ein 35 Jahre lang anhaltendes Wachstum dargelegt hat, stellt er sich ehrlicherweise die folgenden Fragen:

„Vielen Menschen fällt es schwer, sich eine solche Entwicklung vorzustellen. Haben wir nicht schon jetzt einen sehr hohen Lebensstandard? Woher sollen denn die zusätzlichen Güter kommen, die zu einer solchen Verdoppelung des Lebensstandards führen würden? Wie wirkt sich ein anhaltendes Wirtschaftswachstum auf die Umwelt aus?“ (Bofinger 2005: 259)

So ehrlich seine Fragen sind, so enttäuschend oberflächlich sind seine Antworten: „Wachstumsskeptiker sind häufig Menschen mit einem relativ guten Einkommen . …. Will man … die Lage der Menschen mit geringen Einkommen verbessern, ohne dabei das Geld von den ‚wohlhabenden‘ zu nehmen, bleibt nur die Lösung des Wirtschaftswachstums.“ Und darum sollte man seiner Ansicht nach die wunderbaren „Effekte des exponentiellen Wachstums nicht unterschätzen“. Bofinger hat offensichtlich keine Ahnung von den Problemen mit der Ressourcenbasis industrieller Wirtschaften, den ökologischen Effekten des exponentiellen Wachstums und von der Problematik der erneuerbaren Ressourcen, obwohl die ganze Menschheit schon seit 1972 über diese Fragen diskutiert. Und wieso darf das Geld nicht von den Wohlhabenden genommen werden? Die LINKE könnte gerade auf der Grundlage dieser Erkenntnis ihre Argumentation für eine soziale Umverteilung zuspitzen: Gerade weil uns der Weg eines weiteren Wirtschaftswachstums nicht mehr offen steht, müssen wir umso nachdrücklicher auf einer radikalen Umverteilung des vorhandenen Reichtums bestehen!
Was wird aus dem Ziel „Wohlstand für alle“, das nach Bofinger die höchste Priorität haben soll, wenn unsere Lebensgrundlagen schwinden? Welcher Wohlstand wird auf den Ruinen unserer Industriegesellschaft noch möglich sein? „Mad Max“ lässt grüßen ….
Auf die Frage, ob so viel Wachstum überhaupt technisch möglich ist, antwortet Bofinger einfach herablassend: „Wachstumsskeptiker sind manchmal auch Menschen mit geringer Phantasie.“ Mit dieser Aussage gibt er zu, dass er sich mit seinem Fortschrittsoptimismus, mit seinem Setzen auf Forschung und Innovation, im Reich der Phantasie bewegt! Eine reale Basis haben diese Glaubensannahmen nicht. Und was die Auswirkungen des Wirtschaftswachstums auf die Umwelt betrifft, dreht er den Kausalzusammenhang um: „Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass die meisten Gesellschaften in dem Maße umweltbewusster geworden sind, in dem sich auch ihr materieller Wohlstand erhöht hat.“ Also je mehr Wohlstand, desto mehr Umweltbewusstsein. Fragt sich nur: Was kann man mit so einem Umweltbewusstsein anfangen, wenn der materielle Wohlstand selbst die Hauptursache der Umweltzerstörung ist? Das Umweltbewusstsein wächst eben dort, wo die Zerstörung sichtbar wird. (Alle Zitate aus Bofinger 2005: 259f).

Zum Stichwort „Produktivitässteigerungen“ sollte man neben seinen Erfahrungen aus der Tarifkommission ruhig auch ein wenig marxistische Analyse bemühen:
Um Kapital zu akkumulieren, müssen Kapitalisten (Individuen, Staaten oder Konzerne) einen Teil des Mehrwertes in die Produktionsmittel und die Arbeitskraft investieren, die für ein potenziell profitables Geschäft Verwendung finden. Wenn das Verhältnis von Kapital und Arbeitskraft (das physische oder technische Verhältnis zwischen Produktionsmittel und Arbeitskraft) konstant ist, dann darf die Kapitalakkumulation nicht schneller vonstatten gehen als das Wachstum der verfügbaren Arbeitskraft innerhalb der Bevölkerung. Andernfalls würde die Kapitalakkumulation bald zur Erschöpfung der Reservearmee an Arbeitskräften führen, die Profitrate somit verringern und in die Krise führen.
Um sich von den Beschränkungen der verfügbaren Arbeitskraft zu befreien und die Reservearmee an Arbeitskraft wiederherzustellen, ist es notwendig, dass sich das Verhältnis von Kapital und Arbeit zugunsten des Kapitals verschiebt. Dies erfordert es, Arbeitskraft durch Maschinen und andere Produktionsmittel zu ersetzen. „Als Maschinerie erhält das Arbeitsmittel eine materielle Existenzweise, welche Ersetzung der Menschenkraft durch Naturkräfte … bedingt.“ (MEW 23, 407) Mit wachsender Verhältnisverschiebung von Arbeitskraft hin zu Kapital tendiert auch der Verbrauch von Energie und anderen materiellen Ressourcen schneller zu wachsen als die Bevölkerung.
Ferner: Mit der Ausweitung der kapitalistischen Produktion muss auch der Konsum der Bevölkerung entsprechend steigen, damit der Mehrwert realisiert werden kann (das heißt damit dem tatsächlichen Angebot eine entsprechende tatsächliche Nachfrage gegenübersteht). Da Konsumgüter immer anspruchsvoller werden und Ausdruck der neuesten Technologien sind, wird der Konsum immer „kapitalintensiver“ und bedingt einen wachsenden Bedarf an Energie und anderen materiellen Rohstoffen.

Es sollte also bedacht werden: Die Steigerung der Arbeitsproduktivität in den Nachkriegsjahrzehnten war nur aufgrund der fossilen Energiebasis möglich, die billig und scheinbar unbegrenzt zur Verfügung stand. Das wird in naher Zukunft nicht mehr so sein. Damit sind aber auch alle Politikvorschläge neu zu hinterfragen, deren Ausgangspunkt weitere Produktivitätssteigerungen sind.

3. Konkrete Aussagen zur Ökologiepolitik

„Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundert der Verteilungsgerechtigkeit, der nachhaltigen Entwicklung und eines qualitativen und selektiven, die Umwelt schonenden Wachstums werden.“ (Wie erhalten wir Natur und Gesellschaft?)

„Eine ökologisch nachhaltige Entwicklung steht im Widerspruch zur kapitalistischen Wachstumslogik.“ (Die Zentralität der ökologischen Frage)

„Sozialökologischer Umbau“

„… drastische Reduzierung von Stoff- und Energieumsätzen … Herausbildung neuer, mit der Umwelt verträglicher Lebensweisen … ökologische Gerechtigkeit und solidarische Unterstützung der ärmeren Länder …“

„… Energiewende und eine solare Revolution“ „Verbesserung der Energieeffizienz, vor allem aber Einsparung beim Energie- und Rohstoffverbrauch und eine Veränderung des Energiemixes zugunsten erneuerbarer Energien. Dies ist nicht nur eine Frage der technologischen Umgestaltung, sondern es werden Änderungen der Produktionsweise und der Art, wie wir leben, notwendig.“

„Mittelfristig muss der gesamte Energiebedarf aus regenerativen Quellen gedeckt werden …“

„Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe, … der ÖPNV muss ausgebaut werden … mittelfristig für Nutzer kostenfrei … Der Flugverkehr ist einzuschränken, vor allem im innerdeutschen und innereuropäischen Verkehr …

Der zentrale Widerspruch kommt in den ersten beiden Zitaten bereits zum Ausdruck. An dem kann man sich nicht vorbeimogeln.

Darüber hinaus enthält dieser Programmteil nichts direkt „Falsches“, er leidet eher an dem, was er nicht sagt bzw. nicht akzentuiert genug sagt, und er verharmlost und entdramatisiert. Nach der Lektüre dieses Programmteils gewinnt man den Eindruck, es geht nicht um unsere Lebensgrundlagen insgesamt, sondern um die Rentenformel o.ä. Der energiepolitische Dreiklang Erneuerbare – Effizienzsteigerung – Suffizienz, der inzwischen Allgemeingut geworden ist, wird hier benannt, doch nicht in den richtigen Proportionen! Die klaren Grenzen des Potentials erneuerbarer Energien und die Grenzen von Effizienzsteigerungen werden nicht aufgezeigt. Es wird der Eindruck der alleinigen technischen Lösbarkeit erweckt, sodass eigentlich die Erwähnung eines anderen Lebensstils wie ein Fremdkörper wirkt: Warum eigentlich sollten wir unseren Lebensstil ändern müssen, wenn der „Umbau“ technisch möglich ist? Hier müsste konkreter gesprochen werden, ansonsten ist das unverbindliche Lyrik.

Der Ausdruck „Umbau“ bedeutet implizit, dass die Industriegesellschaft als solche nicht in Frage gestellt wird!

4. Frieden und Abrüstung

„Auflösung der NATO und Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystems unter Einbeziehung Russlands …sofortiges Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr. Dazu gehören auch deutsche Beteiligungen an UN-mandatierten Militäreinsätzen nach Kap. VII der UNO-Charta … striktes Verbot von Waffenexporten in Krisengebiete …“ (vgl. Präambel, wo der Zusatz „in Krisengebiete“ noch fehlt)

Das ist ein bemerkenswerter Rückfall hinter bisherige Programmatik: keine Rüstungsexporte in Krisengebiete ist nichts anderes als aktuelle Gesetzgebung und Grundlage für die aktuelle Praxis! Man hätte also ehrlicherweise formulieren können: „Wir wollen die derzeitige Genehmigungspraxis beibehalten.“ Die schleichende Aufweichung der Programmatik in diesem Punkt wurde wohl auch aus der Einsicht heraus geboren, dass ein generelles Verbot von Rüstungsexporten einem Aus für die Rüstungsindustrie in Deutschland gleichkäme – was aus unserer Sicht selbstverständlich höchst wünschenswert wäre, allein schon, weil die Rüstungsindustrie eine gigantische Fehlallokation und Verschwendung von Ressourcen darstellt. Überdies ist die Definition von Krisengebieten heute noch problematischer geworden als früher, da sich die Verhältnisse in den einzelnen Weltregionen sehr schnell ändern und instabil werden können, vor allem aufgrund des Klimawandels (s. Darfur) und der Konflikte über Ressourcen.

Die EU bereitet sich ganz konkret auf Ressourcenkriege vor: siehe European Defence Paper 2004. Es geht also keineswegs um Mutmaßungen und Spekulationen, sondern um eine konkrete Gefahr, die bereits innerhalb des kommenden Jahrzehnt akut werden könnte. Der Programmentwurf spricht zwar die Problematik sehr allgemein an, müsste aber m.E. hier viel konkreter werden.

Da der alte Begriff der Landesverteidigung, den das GG eigentlich vorsah, inzwischen hinfällig ist und angesichts der sich zuspitzenden Ressourcenkonflikte wäre es sehr wichtig, konsequent die Forderung zu vertreten: Bundesrepublik ohne Armee! Und der Prüfstein dafür, ob man die Forderung nach Auflösung der NATO wirklich ernst meint, wäre die Forderung nach Austritt der BRD aus der NATO! Denn nur eine solche Forderung liegt in Reichweite der deutschen Politik, wohingegen die Forderung nach „Auflösung“ deshalb billig ist, weil sie an niemanden konkret adressiert ist.

C. Gesamteindruck

Der Programmentwurf spiegelt sehr deutlich die „Herkunft“ der Partei DIE LINKE wider. Er trägt einerseits die Handschrift der breiten Basis derer, die aus gewerkschaftlichen Zusammenhängen kommen und deren Horizont von der Tarifverhandlungskommission vorgegeben ist. Das Nachkriegswohlstandsmodell wurde nie grundlegend in Frage gestellt, es wurde lediglich der gerechte Anteil für die Arbeitnehmer eingeklagt. Nach dem Preis dieses Wohlstands und Massenkonsums wurde nie gefragt. Das kommt im Programmteil in für meine Begriffe abstoßender Weise gerade im historischen Rückblick auf Nachkriegsdeutschland zum Ausdruck. Er scheint sich an Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ inspiriert zu haben. (Heinz Erhard wäre mir an dieser Stelle entschieden lieber). Der Programmentwurf ist völlig unbelastet von den Einsichten eines linken Spektrums, das sich der internationalen Solidarität und der Ökologie verpflichtet hat. Es ist stattdessen von platter Gewerkschaftsrhetorik geprägt. Der andere Traditionsstrom der Partei ist die ehemalige PDS, also die Ost-Klientel, die das nostalgische Verhältnis zur eigenen Vergangenheit (einschließlich dessen, was tatsächlich gesellschaftlich fortschrittlich und erhaltenswert war) immer mit dem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem wirtschaftlich erfolgreichen Westen verbunden hat, der ja auch für die DDR der unhinterfragbare Maßstab der Ökonomie war. Das heißt, auch von dieser Tradition her kann man keine Skepsis gegenüber dem Industrialismus insgesamt erwarten. Der theoretische Hintergrund vieler führender Gestalten in der Partei ist eine völlig einseitige Marx-Rezeption, deren hermeneutischer Schlüssel das „kommunistische Manifest“ ist, in dem Marx und Engels geradezu enthusiastisch die (wohlgemerkt Mitte des 19. Jahrhunderts) erstaunliche Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus beschrieben haben. Die Produktivkraftentwicklung als die historische Aufgabe des Kapitalismus und die Industriepolitik im Stile Stalins bildet für diese Klientel immer noch den Horizont ihres Ökonomie- und Gesellschaftsverständnisses.
Mit diesen zwei Traditionssträngen wächst – gegen allen äußeren Anschein – tatsächlich in der LINKEN zusammen, was zusammen gehört – zum Verhängnis für eine linke Politik, die auf der Höhe der Zeit zu sein versucht, den gegenwärtigen Krisen gerecht werden will und es als ihre entscheidende Aufgabe ansieht, den notwendigen Rückbau des destruktiven Industrialismus, die nötige industrielle Abrüstung, solidarisch zu gestalten. Ein hilfreicher Bündnispartner ist DIE LINKE lediglich in bestimmten Einzelfragen und Teilzielen.

Mainz, 25. August 2010