Ich war schon immer gegen Ungerechtigkeiten

Folgendes Interview mit der neuen Botschafterin Boliviens in Deutschland Elizabeth »Eli« Cristina Salguero Carrillo, die diesen Mittwoch ihre offizielle Akkreditierung als Botschafterin des Plurinationalen Staates Bolivien in Deutschland entgegengenommen hat, geben wir hier mit freundlicher Genehmigung von Blickpunkt Lateinamaerika wieder.

In Berlin sprach Benjamin Beutler mit ihr über Evo Morales, Buen Vivir und globale Ungerechtigkeiten.

Blickpunkt Lateinamerika: In Berlin ist nur knapp jede zehnte Botschafterin eine Frau. Was ist ihr Werdegang vor ihrem Einstieg in die große Politik?

Elizabeth Salguero: Ich bin eigentlich studierte Journalistin und bin im argentinischen Cordoba zur Uni gegangen. Über ein Stipendium habe ich danach das Institut für Regionalentwicklung in Karlsruhe besucht. In Deutschland habe ich darum insgesamt vier Jahre gelebt, unter anderem in Freiburg. Nach meiner Rückkehr nach Bolivien arbeitete ich mehrere Jahre in Nichtregierungsorganisationen, die sich für Indigenen- und Frauenrechte einsetzen. Den wichtigsten Posten in diesem Gebiet hatte ich wohl als Vertreterin aller Frauenrechtsorganisationen Boliviens auf der Frauenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Peking 1995 inne. Danach war ich auch als Autorin und Redakteurin für Zeitungen, Radio und TV unterwegs.

Über 60 Prozent von zehn Millionen Bolivianern bezeichnen sich als »indigen«. Woher kommt ihr persönliches Interesse für die indigene Sache?

Ich war schon immer gegen Ungerechtigkeit. In meinem Land sind die Indigenen die am meisten Diskriminierten, die am meisten Ausgeschlossenen. Sie leiden am meisten unter Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Bisher war Bolivien ein zutiefst rassistisches Land. Die Tatsache, indigene Gesichtszüge oder Identität zu haben, führte dazu, als ein Staatsbürger zweiter Klasse betrachtet und behandelt zu werden. Während meiner früheren Arbeit habe ich feststellen müssen, dass es ganz klar die Frauen sind, die Hauptzielscheibe dieser sehr starken Diskriminierung sind: Als Indigene, als Frauen und als Arme. Sicher bin ich darüber wohl endgültig zur Feministin geworden

In Deutschland gehen die Urteile über Boliviens Präsidenten Evo Morales stark auseinander, die Etiketten reichen von Sozialist, Anti-Kapitalist, Indigenist über Sozialdemokrat, Populist bis autoritärer Anti-Demokrat …

Also mit der »Bewegung zum Sozialismus« hat Bolivien eine klar sozialistische Regierung. Die ideologische Orientierung des MAS begründet sich in dem Ziel, das Land in eine soziale Volkswirtschaft umzuwandeln.
Produktivität, Solidarität und Würde werden in den Mittelpunkt gestellt. Den Bolivianern und Bolivianerinnen soll ihre Würde wiedergegeben werden. Das wollen wir über das »Vivir Bien« (Anmerk. d. Red.: Das Gute Leben) schaffen. »Vivir Bien« heißt nicht etwa »besser leben«, sondern »gut« leben, und das, indem die bisher ausgeschlossenen Mehrheiten mit eingeschlossen werden, im bolivianischen Fall die Indigenen und Frauen. Diese Idee und die gesamte Ideologie des MAS finden sich in der neuen Verfassung Boliviens wieder, die im Januar 2009 per Volksabstimmung verabschiedet wurde. Und die nicht von einer kleinen Expertengruppe, sondern von einer direkt gewählten Verfassunggebenden Versammlung ausgearbeitet wurde.

Nun ist im »neuen« Bolivien viel vom »Prozess des Wandels« die Rede. Bei einem Wandel wird gewöhnlich von einem »Alten«, das es zu überwinden gilt, ausgegangen …

Das ist natürlich der Neoliberalismus. Wirtschaftlich gesprochen war in Bolivien die gesamte Wirtschaft »liberalisiert«, im direkten Wortlaut für den Markt »befreit«, und das ohne Schranken. Alle Staatsfirmen wurden in den 1990er Jahren privatisiert und gingen in die Hand von Multis und Privaten über. Der große Wandel ist also genau der, dass die Bodenschätze und strategisch wichtigen Wirtschaftsunternehmen in Telekommunikation, Bergbau, Wasser, Strom, Zement, Papier usw. zurück unter staatliche Kontrolle gekommen sind oder neu gegründet wurden. Nur so kann aus unserer Sicht der zweite Schritt des Wandels gelingen, nämlich die Schaffung des Sozialstaats über Umverteilung von Reichtum. Das passiert heute über staatliche Zahlungsprogramme. Auf den ersten Blick mögen diese Zuwendungen als purer staatlicher Assistenzialismus erscheinen. Doch angesichts des Ausmaßes der Armut in Bolivien sind sie eine unverzichtbare Notwendigkeit. Auch wenn noch ein weiter Weg vor uns liegt, seit Antritt der MAS-Regierung haben 1,4 Millionen Bolivianer die absolute Armut hinter sich gelassen.

Unverzichtbar für eine funktionierende Wirtschaft ist Infrastruktur. Reis und Fleisch etwa werden im fruchtbaren Amazonas-Tiefland hergestellt und müssen im Andenland, das immerhin dreimal so groß wie Deutschland ist, aber kaum Straßen hat, unter die Leute gebracht werden. Heute gibt es heftigen Widerstand gegen den Bau einer Verbindungsstraße, die durch TIPNIS verlaufen soll.

Lassen Sie mich eines vorweg schicken. Zum ersten Mal wird in Bolivien Politik auch für die ländlichen Regionen gemacht. Heute kommt der Staat in den früher abgeschriebenen Gebieten an. Die große Herausforderung im TIPNIS-Fall ist jetzt, die dort lebenden Menschen zu fragen, ob sie eine Straße wollen oder nicht. Wenn die Mehrheit entscheidet, dass sie keinen Zugang zu Gesundheit, Bildung und Grundversorgung haben wollen, dann sage ich: Wunderbar. Das ist ihre eigene Entscheidung. Das wichtige ist eine demokratische Volksbefragung. Der aktuelle Protestmarsch gegen den Straßenbau aber ist gegen eine geplante Konsultation. Das ist – finde ich – das Anti-Demokratischste, was es eigentlich gibt. Überhaupt ist das Bild vom TIPNIS-Park im unberührten Zustand ein Mythos. Selbst Funktionären des Protestmarsches wurde der illegale Handel mit Tropenholz und Jagd nach seltenen Tieren nachgewiesen. Mehr öffentliche Kontrolle im TIPNIS, auch durch eine Straße, das wäre hilfreich.

Nun wird vom ecuadorianischen Politiker Alberto Acosta heute der Vorwurf erhoben, Linksregierungen in Ecuador, Venezuela und Bolivien würden einem umweltzerstörerischen Entwicklungsmodell anhängen, was wegen des Festhaltens an Rohstoff-Förderung zur Finanzierung der Sozialprogramme als »Neo-Extraktivismus« gebrandmarkt wird. Ist das linke Bolivien mehr Umweltsünder als zu neoliberalen Zeiten?

Dafür müssten zuallererst die Umweltschäden wissenschaftlich-empirisch vergleichbar gemacht werden. Sonst reden wir nur in die leere Luft hinein. Fundamentales Prinzip, auch auf internationaler Ebene wie beim jüngsten Rio+20-Gipfel in Brasilien, ist für die MAS-Politik der Schutz der Mutter Erde, der Pachamama. Aber sollen wir es sein, welche die Bodenschätze in der Erde belassen, während der reiche, industrialisierte Norden die Umwelt weiter schädigt? Es muss uns doch erlaubt sein Mutter Erde rational und nachhaltig für eine ausgeglichene Entwicklung zu nutzen. Das ist eine Frage globaler Gerechtigkeit. Seit dem Kyoto-Klima-Abkommen 1997, wer hat seine Verpflichtungen in Sachen Reduzierung der CO2-Emmissionen eingehalten? Die entwickelten Länder waren das sicher nicht. Ich erinnere mich da an eine alte Karikatur, die das Verhältnis zwischen Norden und Süden auf den Punkt bringt: Gutgenährte Menschen im Norden rufen »Kein Ozon!«. Was ein Kind im Süden mit einem Wort erwidert: »Hunger!« Darum glauben wir auch nicht an den CO2-Emissionshandel. Wir sollen hier Naturparks und Reservate schaffen. Während der Norden die Umwelt weiter verpestet, sterben wir vor Hunger, nur weil wir die »Lunge der Menschheit« bewahren sollen. Das ist doch ungerecht. Das Problem der Erderwärmung muss von den Industrieländern gelöst werden. Sie sind die größten Verschmutzer, haben aber auch die Technologien dafür. Worum es also geht: Wir brauchen die Bodenschätze, um gut und in Würde leben zu können. Entlegene Gemeinden wie im TIPNIS haben das Recht auf Strom, Trinkwasser und Fortschritt. Sie sind es, die entscheiden, ob sie weiter auf den Bäumen leben wollen. Es kann aber nicht angehen, dass wir aus den Städten die Öko-Fahne schwenken zu Lasten der Menschen auf dem Land.

Interview: Benjamim Beutler, 11.07.2012