Netzstabilität – zentrale Stromtrassen oder dezentrale, vermaschte Netze?

Prof. Dr. Marc Timme und Dr. Dirk Witthaut vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen widerlegen das Credo der Energielobby, dass neue Hoch- und Höchstspannungstrassen für die Energiewende unbedingt erforderlich seien:

Sonne und Windkraft können das Stromnetz stabilisieren

… lautet die Pressemitteilung der MPG vom 7. September 2012

Je mehr Stromerzeuger auf der Grundlage erneuerbarer Energien in das Netz einspeisen, desto engmaschiger wird dieses. Einige Experten befürchten, dass dadurch die Stabilität der gesamten Versorgung gefährdet wird – insbesondere, weil Sonneneinstrahlung und Wind nicht immer verfügbar sind – schwanken oder schwingen, wie die Wissenschaftler sagen. Bei Stromerzeugern geht es darüber hinaus darum, dass die Schwingungen der erzeugten Wechselströme synchron zueinander (in Phase) erfolgen. Die Göttinger Forscher haben nun am Beispiel des britischen Stromnetzes (Wollten die deutschen Netzbetreiber die Ergebnisse nicht?) untersucht, ob und wie sich wenige Großerzeuger synchronisieren und wie das bei vielen kleineren Erzeugern und Verbrauchern aussieht. Dabei hat sich gezeigt, dass sich dezentrale Erzeuger und die Verbraucher in einem simulierten Stromnetz selbst synchronisierten. Es wird also nicht notwendig sein, zentrale Regeleinrichtungen zu schaffen, mit denen die Netzsynchronität gesichert wird – was bisher als großes Problem angesehen wird.

Die Lösung heißt Selbstorganisation. Sie tritt in der Natur häufig auf und beschreibt die Entstehung von Ordnung und Strukturen aus einer großen Zahl einzelner miteinander wechselwirkender  Elemente ohne äußere Steuerung: Schwarmbildung bei Vögeln,  Fischen und Insekten, sich begegnende oder kreuzende Fußgängerströme an Verkehrsknoten, das Feuern von Neuronen im Gehirn im Gleichtakt, synchrones Blinken von Leuchtkäfern, das Zirpen von Grillen aber auch die Entstehung öffentlicher Meinungen. Selbstorganisationsprozesse sind oft schwer durchschaubar und für Ingenieure häufig ein Gräuel, weil klare Wenn-Dann-Beziehungen meist nicht sichtbar sind und auf Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen alternativer Möglichkeiten zurück gegriffen werden muss. Managern, die einem Shareholder Value verpflichtet sind, oder Politikern diese Denkweise zu vermitteln, dürfte auch nicht einfach sein….

Die Simulation von Selbstorganisationsprozessen ist schwierig, denn sie verlangt genügend viele Netzknoten – im gegebenen Falle sowohl Stromerzeuger als auch -verbraucher. Die Kombination eines großen Stromnetzes mit detaillierter Auswertung ist daher ein Novum. „Unser Modell ist gerade aufwendig und umfassend genug, um kollektive Effekte in einem komplexen Netzwerk zu simulieren und, was ebenso wichtig ist: Es ist einfach genug, um die Effekte auch zu verstehen“, sagt Dirk Witthaut, Mitarbeiter des Teams. Die Forscher simulierten sehr viele Netze mit jeweils anderer Struktur. Die Stromnetze bestanden also aus verschiedenen Mischungen von großen und kleinen Generatoren, sowie Leitungen unterschiedlicher Kapazitäten, also gewissermaßen Feldwege und Autobahnen für elektrischen Strom. So konnten die Wissenschaftler Unterschiede zwischen zentral und dezentral organisierten Stromnetzen ausmachen.

Die Ergebnisse sind:

  • Dezentrale Netze synchronisieren sich selbst – wenn die Verbindungen der Netzteilnehmer eine bestimmte Mindestkapazität überschreiten.
  • Der Ausfall einer einzelnen Leitung in einem dezentral organisierten Stromnetz führt nicht so leicht zu einem Stromausfall im gesamten Netz wie bei einem zentral organisierten.
  • Beim Bau neuer Leitungen muss man vorsichtig sein muss: sie können paradoxerweise zu einer Abnahme der Übertragungskapazität des Gesamtnetzes führen.
  • Zentrale Netze mit Großkraftwerken haben einen Vorteil: Sie können Bedarfs-Schwankungen auf Verbraucherseite leichter „abpuffern“, da die rotierenden Massen der großen Generatoren eine große Trägheit haben und nicht so schnell „aus dem Tritt“ zu bringen sind. Diese Trägheit fehlt den Solaranlagen.

„Beim Neubau von Leitungen in einem dezentralen Netz ist … Vorsicht geboten“, sagt Witthaut. Welche Knoten unbesorgt miteinander verbunden werden können, müsse sorgfältig überlegt werden. Der Forscher versteht die Ergebnisse der Simulationen dennoch als Ermutigung für den Bau von dezentralen Netzen. „Bislang blickt man eher sorgenvoll auf mögliche Effekte, die eine große Zahl kleiner Generatoren in einem engmaschigen Netz kollektiv hervorrufen können“, sagt der Physiker. Man habe Angst, dass sie häufiger Stromausfälle verursachen. „Doch unsere Arbeit zeigt, dass eher das Gegenteil der Fall ist und kollektive Effekte sehr nützlich sein können.“

Um ihr Computermodell auch praktisch nutzbar zu machen, streben die Göttinger Forscher die Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Netzbetreibern an. Erste Kontakte gibt es bereits. Unterdessen verbessern die Wissenschaftler ihr Modell. Gerade arbeitet das Team daran, auch die witterungsbedingten Schwankungen von regenerativen Energiequellen in den Simulationen zu berücksichtigen.

Quelle:

Mitteilung der Max-Planck-Gesellschaft „Sonne und Windkraft können das Stromnetz stabilisieren