Elemente zur Analyse

unserer schweren Wahlniederlage vom 20. Januar1

Zum Charakter dieses Papiers

Niederlagen sind bessere Lehrmeister als Siege. Die Qualität einer Organisation, einer Bewegung, einer Partei beweist sich nicht im Triumph. Sie beweist sich in ihrer Fähigkeit, Rückschläge so zu verarbeiten, dass sie Grundlage für künftige Siege sein können.

Grundlage dieser Fähigkeit sind Schonungslosigkeit und Rücksichtsnahme. Wichtig ist die Schonungslosigkeit auch uns selbst gegenüber in der Analyse der Gründe der Niederlage. Wichtig ist gleichzeitig die Rücksichtsnahme auf alle die, die mit viel Herz, allen ihren geistigen Kräften und häufig bis an den Rand der physischen Erschöpfung um einen Sieg gerungen haben und nun als Geschlagene vom Feld gehen. Die, die wir jetzt kritisieren, werden die sein, mit denen wir künftige Kämpfe zu bestehen haben. Wir dürfen das in der Art und Weise der Auswertung unserer Niederlage vielleicht einen heißen Satz lang vergessen – aber keine Minute länger.

Das folgende Papier ist noch keine Analyse. Es ist nicht mehr als eine Sammlung von Bauteilen. Die meisten sind gesammelt von den vielen, mit denen ich vor und nach dem 20. Januar sprechen konnte, die ich hier nicht namentlich nenne, denen ich aber für ihren Beitrag zu diesen „Elementen“ danke – viele, die sich in den folgenden Zeilen wiedererkennen, werden wissen, dass ich sie meine.

Die Kernergebnisse der Niederlage

An den Wahlen zum Niedersächsischen Landtag am 20. Januar 2013 haben sich 3,6 Millionen der 6,1 Millionen Wahlberechtigten beteiligt. Die Wahlbeteiligung ist damit leicht auf 59,4% (57,1)2 angestiegen.
In den Landtag eingezogen sind die CDU (36,0%) und die FDP (9,9%), die künftig mit zusammen 68 Sitzen die Opposition bilden sowie SPD (32,6%) und GRÜNE (13,7%), die mit 69 Sitzen künftig die Regierung stellen können.
Die Piraten sind mit 75.539 Stimmen und 2.1% mit ihrem Ziel des Einzugs in den Landtag gescheitert. Die NPD erzielte 29.444 (52.868) und damit 0,8% (1,5) der Stimmen. Die „Freien Wähler“, eine rechte Gruppierung, die vor allem in den letzten Tagen vor der Wahl massiv plakatiert und mit großflächigen Anzeigen geworben hatte, erzielten 39.647 (1,1%) der Stimmen. Weitere hier nicht erwähnte Parteien blieben deutlich unter 0,5% der Stimmenanteile.
DIE LINKE erzielte 112.215 und damit 3,1% der Zweitstimmen sowie 110.523 und damit ebenfalls 3,1% der Erststimmen. Damit hat sich ihr Stimmenanteil gegenüber den Wahlen 2008 mehr als halbiert. Damals waren es 243.361 (7,1%) der Zweit- und 217.344 (6,4%) der Erststimmen.
In mehreren Wahlkreisen – in Peine, Wolfsburg, Wolfenbüttel, Seesen, Goslar, Döhren, Hannover-Ricklingen, Laatzen, Wunstorf, Bad Pyrmont, Nienburg, Syke, Celle, Buchholz, Stade, Oldenburg, Cloppenburg, Vechta, Wilhelmshaven, Wesermarsch, Ammerland, Bersenbrück, Meppen, Papenburg, Leer und Wittmund – hat DIE LINKE mehr Erst- als Zweitstimmen erhalten.
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die PDS bei den Landtagswahlen 2003 an Zweitstimmen 21.560 und damit 0.5% der Stimmen erhalten hatte.

Abschichtung der Ursachen

Die Abkehr von – in der Summe – über 130.000 Menschen, die vor fünf Jahren die Partei DIE LINKE in den Landtag gewählt hatten und dies dieses Jahr nicht mehr taten, ist eine schwere politische Niederlage. Diese Partei ist in ihrer Massenwirkung gegenüber den letzten Landtagswahlen mehr als halbiert und gegenüber den Bundestagswahlen 2009 (380.373 Zweitstimmen und damit 8,6%) fast geviertelt worden.

Eine Niederlage dieser Schwere hat persönliche, organisatorische, parteipolitische und gesellschaftspolitische Ursachen und Konsequenzen.

Der Autor dieser „Elemente“ hat als Vorsitzender und Spitzenkandidat der Partei, die diesen Wahlkampf geführt hat, die volle Verantwortung für diese schwere Niederlage zu übernehmen und ist dazu auch bereit. Er wird sich einer Ablösung an der Spitze der Landespartei nicht in den Weg stellen.

Vermutlich wäre es aber fahrlässig, dem in bürgerlichen Politikbetrieb üblichen Reflex zu folgen und durch personelle Konsequenzen zu meinen, die Ursachen einer Niederlage beseitigt zu haben. Im Allgemeinen werden – das ist eine diesem Papier zugrundeliegende These – im politischen Betrieb die Wirkung von Persönlichkeiten über- und die Bedeutung gesellschaftlicher Kräfteverschiebungen, die von Einzelpersönlichkeiten nicht bewirkt, sondern nur widergespiegelt werden, unterschätzt. Eine andere Spitzenkandidatur hätte vermutlich das Ergebnis nur unwesentlich in der einen oder anderen Richtung beeinflusst.

Ebenfalls in der Regel überschätzt wird die Qualität der parlamentarischen Alltagsarbeit hinsichtlich ihrer Wirkung auf Wahlergebnisse. Diese niedersächsische Landtagsfraktion hat – das wird ihr innerhalb der Partei und weit über die Parteigrenzen hinaus bis tief ins bürgerliche Lager bescheinigt – eine glänzende Arbeit geleistet. Ihre Abgeordneten, nach meiner persönlichen Einschätzung aber mindestens genauso die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktion haben fünf Jahre lang mit großer Hingabe, unermüdlichen Fleiß und großer Fachkunde dazu beigetragen, dass sich die Achse der landespolitischen Diskussionen in Niedersachsen fünf Jahre lang kontinuierlich nach links verschoben hat – so wie sich diese Achse jetzt vermutlich fünf Jahre wieder nach rechts verschieben wird. Ohne uns wären Themen wie Mindestlohn, sofortige Abschaffung der Studiengebühren, die Skandale des den ALG-II-Empfängern aufgezwungenen Lebens weniger, Forderungen der Anti-AKW-Bewegung schwächer und solche Themen wie Berufsverbote, Kriegs- und Polizisteneinsätze in anderen Ländern und andere Themen überhaupt nicht auf die Tagesordnung des Landtages gekommen und sie werden mit uns von der Tagesordnung wieder verschwinden.
Das politische Gewerbe ist keine Tischlerei. Ob der Tischler morgens im Bett bleibt oder 5 Stunden oder 10 Stunden an Säge und Hobel steht, entscheidet darüber, ob es abends einen neuen Tisch gibt oder nicht. Das gilt für die politische Arbeit nicht.
Es mag sein, dass der Unterschied zwischen den 2,x-Wahlniederlagen, die wir kürzlich in anderen westlichen Bundesländern erlitten haben und dieser 3,1-Wahlniederlage auch in der Qualität der Arbeit der Landtagsfraktion und der relativen Geschlossenheit des Landesverbandes begründet liegt. Aber vermutlich ist noch nicht einmal das der Fall in dem Umfang, der allen zu wünschen wäre, die zu Recht stolz waren und sind auf die immense Arbeit, die sie in den letzten fünf Jahren getan haben. Aber es bleibt dabei: Keine dieser vielen Stunden, die wir mit Anträgen und Anfragen verbracht haben, war umsonst.

Ähnliches gilt auch für die Führung des Wahlkampfes. In der Regel wird deren Bedeutung für ein Wahlergebnis ebenfalls eher über- als unterschätzt. Nach meiner persönlichen Wahrnehmung war dies der beste Wahlkampf, den wir – ob als PDS oder WASG oder DIE LINKE – je geführt haben. Die Kampagne ist über einen Zeitraum von über einem Jahr geplant und umgesetzt worden: Von den ersten Materialien für ein Landtagswahlprogramm Ende 2011 über den „Großen Ratschlag“ am 21. Januar 2012, aus dem nach weiteren vielen Beratungen das Landtagswahlprogramm hervorging bis hin zu einer breit im Landesverband diskutierten und dann einmütig getragenen Kampagne unter der Dachzeile „Statt Spekulanten …“ und der Konzentration auf Arbeit, Rente, Krankenhäuser, Bildung und Atompolitik. Alle Kreisverbände hatten alle notwendigen Wahlkampfmaterialien rechtzeitig und in genügender Menge vor Ort. Diejenigen, die das in der Wahlkampfzentrale und vor Ort meist ohne oder mit schlechter Bezahlung teilweise mit einen physischen Einsatz bis zum Stillstand der Augenlider geleistet haben, können auf diese Kampagne zu Recht stolz sein. Stolz sind wir auch auf die 87 DirektkandidatInnen, die sich in den vielen Podiumsdiskussionen glänzend geschlagen haben. Die vielen neuen Elemente – vor allem der Einsatz elektronischer Medien in einem Umfang und mit einer Qualität, die nicht nur Internet-Naivlinge wie den Autor dieses Papiers, sondern auch Fachkundige beeindruckt hat – müssen in künftige Kampagnen der Partei hinübergerettet werden. Es darf keinesfalls die Schlussfolgerung geben, dies alles sei doch sinnlos, wie das Wahlergebnis beweise. Das wäre ein schwerer Fehler bei der Vorbereitung künftiger Siege. Das würde ignorieren, was holländische Widerstandskämpfer nach 1941 an die Hauswände schrieben: Es ist ärgerlich, wenn Du einen Handschuh verlierst. Aber es ist eine kleine Katastrophe, wenn Du einen Handschuh verlierst, dann den zweiten wegwirfst und anschließend den ersten wiederfindest.

Damit wären wir – und auch das gehört in diese Elemente – bei dem Dank an die auswärtigen Helferinnen und Helfer, die buchstäblich zu hunderten aus fernen Ländern wie Holland und Bayern und auch aus den vielen nahen Bundesländern angereist waren. Ob heiße Tomatensuppe oder die klammen Finger beim Aufhängen unsere Plakate – diese Kraft der Solidarität wird zwischen Nordsee und Harz unvergessen bleiben und fortwirken!

Das alles war großartig, aber es hat uns nicht wieder in den Landtag gebracht. Das ist deshalb wichtig zu betonen, weil es ein schwerer analytischer Fehler wäre – der dann irgendwann zu einem Fehler im künftigen Handeln werden würde – zu glauben, durch eine andere Organisation, durch andere Personen in der Wahlkampfleitung, durch weitere Basisberatungen über Plakate oder andere Maßnahmen wäre die Niederlage abzuwenden gewesen. Sie hatte ihre Ursachen nicht in der Wahlkampfführung. Diese Niederlage haben wir nicht wegen, sondern trotz unserer Wahlkampagne und unserer Wahlkampforganisation erlitten.

Auch die strukturelle Schwäche unserer eigenen Organisation dürfte vermutlich kein wesentlicher Grund für die Wahlniederlage gewesen sein. Wir hatten 2008 rund 2000 Mitglieder und jetzt knapp 3000. Wir haben in einigen Kreisen erhebliche Probleme gehabt, soviel aktive Mitglieder zu finden, um wenigstens eine minimale Plakatierung und Verteilung zu gewährleisten. Es deutet aber nichts darauf hin, dass das Wahlergebnis qualitativ anders gewesen wäre, wenn wir 500 aktive Mitglieder mehr gehabt hätten, die gesteckt und plakatiert hätten.

Zu unserer Wahlkampagne gehörten auch die beiden Personalentscheidungen, die in den letzten 18 Tagen – also zwischen dem 2. und dem 20. Januar – die Medienaufmerksamkeit auf DIE LINKE gelenkt haben: Die Bereitschaft von Sahra Wagenknecht, nach den Wahlen ggf. die Verhandlungen über eine Regierungsbildung für DIE LINKE zu führen und der Übertritt der Landtagsabgeordneten Sigrid Leuschner zu unserer Partei. Beides hat große Aufmerksamkeit, ganz überwiegende Zustimmung an den Infotischen und bei den immer gut besuchten, häufig sogar überfüllten Veranstaltungen gefunden, aber letztlich keine wahlentscheidende Wirkung entfaltet. Diese richtigen und von beiden Frauen auch persönlich mutigen Maßnahmen bestätigen meines Erachtens die These von der begrenzten Wirksamkeit noch so kluger und engagierter Partei-Manöver für die Wahlentscheidungen von zehntausenden oder gar Millionen Menschen.

Insbesondere in der Schlussphase, als sich die Möglichkeit eines Scheiterns andeutete, haben wir uns (der Autor ausdrücklich eingeschlossen) bitter beklagt über den Terror der Demoskopen, die uns trotz einer vorliegender 6%-Umfrage stur und in allen wichtigen Medien auf die 3 Prozent festgenagelt hatten, die in Verbindung mit der undemokratischen 5%-Klausel immer die Kippschalter-Wirkung entfaltet, nach der Menschen, die zwischen uns und anderen Parteien schwanken, aus Furcht vor dieser Klausel uns dann die Stimme verweigern, wenn sie unseren Einzug gefährdet sehen. Unsere Niederlage ist zum Teil auf diesen Kippschalter-Effekt, dem wir uns namentlich am Schluß nicht entziehen konnten, zurückzuführen. Gegen die Sogwirkung von medial massiv verbreiten 3%-Umfagen hat unsere Partei kein Gegenmittel gefunden. Dies ist auch für die bevorstehende Bundestagswahl ein trotz der jetzt noch deutlich über 5% liegenden Umfragen drohendes Problem.
Andererseits würden wir zu oberflächlich analysieren, wenn wir dies für wahlentscheidend halten würden. Die FDP ist zwar schon bei der leichten Steigerung von 3 auf 4% in den Medien als „auf dem aufsteigenden Ast“ hochgejubelt worden wie das mit uns niemals geschehen wäre. Aber für ihr Wählerpotential gilt eben auch hinsichtlich dieser scheinbaren Macht der Deskopen, was die bürgerliche „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ (HAZ) am 21. Januar schrieb: „Wahrscheinlich ist es eben jene Verfestigung der Prognosen, die vielen Leuten irgendwann auf den Geist gegangen ist. … Zuletzt mochte manch einer denken: Wer trifft eigentlich die Entscheidung im Land? Die Demoskopen und die Medien mit ihren nach oben oder unten gedrehten Daumen? Oder die Wähler?“ Das, was hier dem FDP-Wählerpotential unterstellt wird, war als Grundströmung im LINKEN-Wählerpotential offensichtlich nicht im ausreichenden Maße vorhanden.

Lagerbildungen

Bei der hier versuchten Abschichtung der Gründe für unsere Wahlniederlage nähren wir uns damit den aus meiner Sicht wesentlichen tieferen Gründen.

Wir haben mit unserer Kampagne unsere Stammwählerschaft erreicht. Das ist nicht wenig. Mehr noch: Wir haben unsere Stammwählerschaft durch die Arbeit der letzten fünf Jahre deutlich ausgeweitet und stabilisiert. Es macht für die Perspektive dieser Partei einen großen Unterschied, ob wir auf einem Sockel von 20.000 Anhängern und 0,5% der Stimmen oder ob wir auf einem Sockel von 100.000 Anhängern und 3% der Stimmen politisch kämpfen.

Die Stabilität, relative Unbeirrbarkeit und Parteitreue dieses gewachsenen Sockels ist eine der größten Ermutigungen in dieser Niederlage. Die Isoliertheit dieses Sockels ist gleichzeitig der Kerngrund unserer Niederlage.

Wir wussten aus Wählerpotentialanalysen im Vorfeld: Wir haben einen stabilen Sockel von – so (unter)schätzten wir – rund 50.000 Menschen und darüber hinaus rund 450.000 Menschen, die zwischen SPD, GRÜNEN, Wahlenthaltung und uns schwanken.
Meines Erachtens deutet im Wahlergebnis vieles darauf hin, dass unsere Stammwählerschaft größer ist als vermutet und die Bindung unsere Gelegenheitswähler an uns schwächer als erhofft.

Die Medien haben, gestützt auf entsprechende Umfragen, die Wahlen zunehmend zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem CDU/FDP- und dem SPD/GRÜNEN-Lager stilisiert. Das war 2008 anders, weil die SPD vor allem auf Bundesebene für viele Gewerkschafter und die GRÜNEN für viele aus dem AKW-Widerstand offensichtlich unwählbar geworden war und außerdem für eine Ablösung der damaligen Regierung Wulff keine realistische Chance bestand. Das hat die Räume für DIE LINKE weit und die Bereitschaft für linke SPD- und GRÜNE-Anhänger, diesmal der LINKEN ihre Stimme zu geben, groß gemacht.

Diese Räume sind bei dieser Wahl aus zwei Gründen wieder zusammengeschnurrt.

Zum einen haben gegen Wahlkampfende sowohl die SPD als auch die GRÜNEN zunehmend kategorisch ausgeschlossen, dass es zu einer Koalition unter Einschluß der LINKEN kommen werde. Eine Leihstimmenkampagne, wie sie die CDU mit durchschlagener Wirkung verdeckt für die FDP gefahren hat, war noch nicht einmal in leisesten Ansätzen vorhanden. Das Sekundärziel der SPD ist die Übernahme der Regierungsverantwortung. Das Primärziel der SPD ist in Niedersachsen wie vermutlich auch im Bund aber das Herausdrängen der linken Konkurrenz aus den Parlamenten. Alle Hoffnungen auf die Bildung eines linken Lagers unter Einschluß der LINKEN analog der Bildung des bürgerlichen Lagers von CDU und FDP haben sich bei diesen Landtagswahlen abermals als verträumte Illusion erwiesen.

Die damit verbundene Sogwirkung schwankender Wähler weg von den LINKEN hin (zurück) zu SPD und GRÜNEN hat sich dadurch verstärkt, dass die Erfahrung mit der SPD und den GRÜNEN an der Regierung verblasst und es Parteien in der Opposition möglich ist, ohne Konsequenzen für ihr tatsächliches Handeln Positionen der LINKEN verbal zu übernehmen und so deren politische Räume wieder eng zu machen. Die niedersächsische Niederlage reiht sich so ein in die Erfahrung, dass es der LINKEN – jedenfalls in den alten Bundesländern – noch nie gelungen ist, gegen eine SPD, die sich in Bund und Land in der Opposition befindet, an Stimmen hinzuzugewinnen. DIE LINKE, die vor allem auf phasenweise enttäuschte SPD-Wähler setzt, wäre immer nur eine abgeleitete Größe, die in Abhängigkeit von frischen Untaten der SPD um die parlamentarische Überlebensgrenze herumoszilliert. Als Teil eines (illusionär) gedachten SPD/GRÜNE/LINKEN-Lagers ist der kleinste Lagerkamerad immer der, der zum Bierholen weggeschickt wird, wenn die Großen meinen, auch ohne ihn klarzukommen.

Diese Rückwendung enttäuschter Wähler zur SPD und den GRÜNEN ist verstärkt worden durch das Handeln selbst solcher prominenter Gewerkschafter, die uns inhaltlich nahestehen und mit uns mehr oder weniger offen symphatisieren. Es hat in diesem Wahlkampf keine Wiederholung des relativ massenhaften offenen Bruchs hunderter oder tausender Gewerkschafter mit der SPD wie zu Zeiten der Herausbildung der WASG und ihrer Vereinigung mit der PDS gegeben. Es gab vielmehr namentlich in den letzten beiden Wochen vor der Wahl vielmehr die Stimmung in weiten Teilen der Gewerkschaften, der SPD in Niedersachsen trotz der Erfahrungen aus der Vergangenheit doch noch mal eine Chance zu geben.

Über die parteipolitische Grundkonstellation hinaus ist auch zu beachten, dass in Deutschland – anders als beispielsweise in Griechenland oder vielen anderen südeuropäischen Ländern – der Grundtrend so wirkt, dass die Krisenfolgen hier noch nicht durchschlagen und sich bei vielen Menschen nicht der Gedanke durchsetzt, es müsse jetzt anders werden, sondern eher der Gedanke, Deutschland solle von den Stürmen außerhalb der Landesgrenzen so geschützt werden, dass sich möglichst wenig ändere – und sich dies dann entweder mit der Kanzlerin oder mit einer SPD verbindet, die verspricht, dass eben nicht alles anders wird, so halbwegs alles so bleibt wie es ist.

Das eigentlich Bemerkenswerte dieses Wahlergebnisses – und in seinem Lichte auch die noch schlimmeren Ergebnisse aus Schleswig-Holstein (2,2%) und NRW (2,5%) – ist, dass selbst bei extremer Zuspitzung auf eine Kopf-an-Kopf-Lage, selbst bei voller Entfaltung des Demoskopen-Terrors, selbst bei voller Ausprägung einer aus der Opposition heraus heftig links blinkenden SPD unser politischer Sockel n i c h t auf die Größenordnung alter PDS-Zeiten abgebrannt wird, sondern sich gegenüber den damaligen Zeiten in absoluten Zahlen wenigstens in Niedersachsen verfünffacht hat.

Zur Notwendigkeit der Herausbildung eines eigenen antikapitalistisch-sozialistischen Lagers

Zumindest in den Flächenländern der alten Bundesrepublik gibt es gegenwärtig, das zeigen die Ergebnisse der letzten Landtagwahlen, keinen vom Handeln der SPD unabhängigen parlamentarischen Platz für die Partei DIE LINKE. Sie ist keine eigenständige Größe, sondern abhängig von den Fehlern insbesondere von SPD und GRÜNE, die Massenwirksamkeit in der Regel nur dann entfalten, wenn diese beiden Parteien in Regierungsfunktion handeln.

Angesichts dessen gibt es die kurzfristig scheinbar schlüssige Konsequenz, parlamentarische Positionen dadurch zu erringen, dass sich unsere Partei den Wählern als zwar ungeliebtes, aber doch notwendiges Korrektiv von SPD und GRÜNEN empfiehlt. Das ist im Kern eine Art aufgezwungene Leihstimmenkampagne. Während bei CDU und FDP der Leihgeber (CDU) die Ausleihung duldet, wäre sie hier – weil Parteien die Wähler ja auch nicht besitzen – durch den Leihstimmenempfänger qua Kraft der ansonsten durchaus der SPD und den GRÜNEN grundsätzlich zugeneigten Wählern jenen Parteien gegen ihre Willen und zu ihrer inneren Läuterung aufgezwungen. Der Autor bekennt, diese Linie auch in diesem Wahlkampf versucht zu haben. Wir hatten damit geworben, nur eine Stimme für die LINKE sichere eine Mehrheit links von CDU und FDP und gleichzeitig beschworen, dass SPD und GRÜNE nur mit uns im Parlament auf der Spur ihrer Wahlversprechen blieben. Diese Argumentationslinie hat keine Massenwirkung entfaltet; sie war – wie das Ergebnis beweist – ja im ersten Teil auch objektiv falsch: SPD und GRÜNE können nun eine Mehrheit ‚links’ von CDU und FDP auch ohne uns bilden. Sie ist, wie sich vermutlich nicht in den nächsten Monaten, aber so ab 2015 entfalten wird, im zweiten Teil wahrscheinlich richtig.

Damit wird ein parteistrategisches Dilemma deutlich: Diese Partei ist – zumindest im Westen – angesichts der undemokratischen 5%-Klausel strukturell zu schwach, um eine eigenständige parlamentarische Funktion zu erkämpfen. Versucht sie aber bei Aufrechterhaltung ihrer sich von den Harzt-IV- und Kriegsparteien klar abgrenzenden inhaltlichen Positionen kurzfristig ihre Zugehörigkeit zu einem vermeintlichen SPD/GRÜNE/LINKE-Lager wahlwirksam zu vermitteln, schwächt sie mittel- und langfristig den Aufbau einer eigenständigen, von der SPD unabhängigen Struktur und Identität.

Aus der Abwägung der verschiedenen Ursachenschichten bei der Erklärung unserer Wahlniederlage vom 20. Januar folgt daraus meines Erachtens die ernüchternde Erkenntnis, dass wir diese Wahlen in der jetzigen politischen Grundkonstellation nicht haben gewinnen können. Weder andere Personen noch eine andere Kampagne noch „mehr Antikapitalismus“ oder „weniger Sektierertum“ noch andere denkbare Maßnahmen hätten uns an diesem 20. Januar 2013 in den Niedersächsischen Landtag zurückgebracht.

Schritte zum Ausbau einer eigenständigen sozialistischen Partei

Es bleibt dieser trotz ungünstiger Konstellation auf über 100.000 Menschen zurückgebrannte Sockel unserer Wählerschaft. Ich kann mir für unsere Partei DIE LINKE keine andere Perspektive vorstellen als die, diesen Sockel durch beharrliche, diesen Menschen gegenüber höfliche, freundliche und inhaltlich klare Arbeit so zu vergrößern, dass wir in der Lage sind, als eigenständige Kraft und damit jederzeit das zu erreichen, was uns 2008 durch eine beglückende Zufallskonstellation gelungen ist: Der Einzug in den Niedersächsischen Landtag.

Die Chance, eine solche Perspektive überhaupt zu haben, dürfen wir uns nicht gering reden. Wir dürfen sie auch nicht verspielen. Wir dürfen vor allem diese über 100.000 Menschen nicht verprellen, die gestern Abend enttäuscht vor den Bildschirmen gesessen haben. Viele von ihnen sind unverschuldet arbeitslos oder arbeiten zu unwürdigen Bedingungen von unter 10 Euro die Stunde. Jedes Schmollen, jede Wählerbeschimpfung, jede Flucht in scheinrevolutionäres Sektierertum würde das beschädigen, was von diesen letzten fünf Jahren bleibt: Eine in erstaunlichem Umfang gewachsene Gruppe von Menschen, die mit uns der Meinung sind, dass für eine bessere Zukunft nicht nur kleine, sondern grundsätzliche Änderungen in dieser Gesellschaft notwendig sind.

Wie hegen wir diese Kraft, die zu gering war, uns wieder in den Landtag zu bringen und die gleichzeitig unsere einzige Hoffnung ist, künftig wieder eine stärkere Rolle bei der Öffnung dieses Landes für eine bessere Gesellschaft zu spielen?

Zunächst und vor allem habe wir die Aufgabe, die Auswertung dieser Niederlage so zu betreiben, dass unsere Landespartei in der unvermeidlich vor uns liegenden Schwächeperiode nicht in sich befehdende Gruppen zerfällt, sondern ein Höchstmaß an solidarisch-kritischer Diskussionskultur entwickelt.

Zweitens haben wir die Aufgabe, gemeinsam das zu hegen und zu pflegen, was wir durch die Arbeit der letzten Jahre aufgebaut haben. Das betrifft vor allem die immerhin 240 kommunalen Mandatsträger, die wir bei den Wahlen im September 2011 errungen haben. Sie sind jetzt stärker als zu Zeiten mit einer Landtagsfraktion unsere Gesichter in der Öffentlichkeit.

Drittens haben wir die Aufgabe, unsere Betriebs- und Personalräte und gewerkschaftlichen Funktionsträger so zu stärken und zu stützen, dass wir die jetzt drohende Rückentwicklung der Gewerkschaften zu einer sozialdemokratischen Richtungsorganisation verhindern und stattdessen antikapitalistische und sozialistische Perspektiven in den Gewerkschaften und von ihnen ausgehend in den Betrieben stärken.

Und viertens haben wir die Aufgabe, die Bildungsarbeit so zu verstärken, dass – fußend auf dem, was Marx und Luxemburg uns hinterlassen haben – die Einsicht in die Notwendigkeit eines anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystems weiter wächst. Wir gehen davon aus, dass die Krise dieses Systems nicht überwunden ist, sondern am Anfang steht und wachsende soziale Verzweiflung im Inneren sowie Kriege überall auf der Welt bringen wird. Wer in dieser Situation die Bildungsarbeit vernachlässigt, handelt politisch verantwortungslos.

Das alles kann eine Partei alleine nicht. Deutlich geworden ist an unserer Niederlage eben auch, dass es kein die Partei umgebendes, sie nährendes Umfeld in dem Umfang gibt, das das Erringen parlamentarischer Positionen sichert. Das ist bei der CDU mit Kirchen, Schützen- und Sportvereinen, Feuerwehren und Stammtischen, bei der SPD mit Gewerkschaften, AWO, Wohlfahrts- und Sozialverbänden, bei GRÜNEN mit Biohöfen, alternativen Kulturzentren und Bürgerinitiativen und sogar der FDP mit Industrie- und Handelskammern und Rotary-Clubs anders. Wenn es der – kleingeschriebenen – Linken nicht gelingt, ein ähnliches gesellschaftliches Gewebe zu schaffen, das die Partei DIE LINKE stützt, wird jede Wahl entweder zum heroischen Opfergang oder zur Zitterpartei. Diese Einsicht – wenn sie denn trifft – hat eine praktische Konsequenz: Die wirkungsvollste Arbeit für unsere Ziele macht nicht derjenige Mensch, der alle Abende und die Wochenenden obendrauf auf Sitzungen und bei Aktionen der Partei verbringt. Mittel- und langfristig wirkungsvoller ist der- oder diejenige, den viele Sportler kennen, die mit ihrem Cellospiel Mitmusizierende und –hörer begeistert, der in seinem Betrieb anerkannt ist und viel Zeit freundlich diskutierend mit Menschen verbringt, die nicht seiner Meinung sind, die aber anerkennen, dass er sich gezielt bei Demonstrationen engagiert und von dem sie wissen, das dieser Mensch bei den LINKEN ist.

Über allem aber steht unsere Gewißheit, dass sich unsere Partei von dieser Niederlage nicht wird knicken lassen. Die Linke in Deutschland hat schon ganz andere Rückschläge verdaut. Freut Euch da oben nicht zu früh. Uns kriegt ihr nicht weg. Wir kommen wieder – für und mit den 100.000, die jetzt schon hinter uns stehen und den Weiteren, die wir beharrlich für eine wirkliche andere Politik gewinnen und in Bewegung bringen werden.

DIE LINKE. Niedersachsen
Manfred Sohn
21.1.2013


  1. 2013 

  2. In Klammern nach den Werten von 2013 jeweils die Werte der Wahlen am 27. Januar 2008