Geld fließt in Strömen
Ökologie. Mit Hunderten Millionen Euro wurde nach der Elbeflut 2002 technischer Hochwasserschutz finanziert – ohne Erfolg. Nach der Katastrophe 2013 muß ökologisch gedacht werden: Mehr Raum für Flüsse und deren Auen
Von Ernst Paul Dörfler
Die Flüsse scheinen außer Rand und Band zu geraten, so möchte man meinen angesichts der jüngsten Hochwasserkatastrophen in Deutschland, die zu den schlimmsten seit Menschengedenken zählen. Mehrere Tote, ganze Ortschaften wurden evakuiert und standen teilweise wochenlang unter Wasser, ungezählte Wild- und Haustiere kamen um. Die Schäden gehen in die Milliarden. Vor allem aber brachte das Hochwasser unermessliches menschliches Leid. Manche Anwohner hatten das Pech, dass ihre Häuser innerhalb von elf Jahren dreimal unter Wasser standen.
Müssen wir diese sintflutartigen Ereignisse als schicksalhaft hinnehmen und uns damit abfinden? Schließlich hat es »Naturkatastrophen« schon immer gegeben, und der Regen kommt nun mal vom Himmel. Auf den haben wir als Erdenmenschen keinen Einfluss. Bevor wir uns dieser Sichtweise ergeben, sollten wir nach den tieferen Ursachen fragen.
Flüsse verdammt, Wasser verbannt
Die Natur kennt keine Hochwasserkatastrophen. Eine Flusslandschaft ist darauf eingestellt, dass auch Unmengen an Wasser anfallen können. Dafür sind die Auen »erfunden« worden, jene natürlichen Überschwemmungslandschaften, die jeden Fluss zu beiden Seiten begleiten. Sie sind oft mehrere Kilometer breit, an der Elbe bis zu zehn. Auen sind dazu in der Lage, die Wassermassen aufzunehmen. Sie fungieren im Naturhaushalt als »Zwischenlager«, als Speicher gewissermaßen. Alle Pflanzenarten, alle Tierarten dieser Region haben es »gelernt«, mit Hochwasser klarzukommen. Natürlich gibt es auch Verluste, manch ein Baum wird umgerissen, manches Tier ertrinkt. Aber das gleicht die Natur im Laufe der Zeit wieder aus, sie sorgt für Nachwuchs.
Doch was hat der Mensch aus der Natur gemacht? Flüsse wurden begradigt, um sie besser schiffbar zu machen. Auch die Elbe hat über 100 Flusskilometer eingebüßt. Kurven und Schleifen haben aber einen Sinn. Sie können die gewaltigen Kräfte des Wassers bremsen. Jeder weiß es, kurvenreiche Straßen verringern das Tempo, werden langsamer befahren. Die Folgen des Umbaus: Die Fließgeschwindigkeit ist gestiegen, und die Hochwasser rauschen schneller zu Tal, die Scheitel fallen höher aus und sind damit gefährlicher.
Zusätzlich zur Begradigung wurden die einst breiten Flüsse eingeengt. Das Ziel hieß Landgewinnung. Hohe Deiche riegelten die Auen größtenteils von den Flüssen ab. Hochwasserfreilegung nannte man das. So schrumpften natürliche Flusslandschaften, die bei der Aufnahme von Wassermassen hilfreich sein können, zu kümmerlichen Resten zusammen. Dabei sind sie es, die zum Schutz unserer Städte und Gemeinden beitragen könnten, quasi als Entlastungsflächen.
Auf jenen Auen, auf denen einst der Fluss zu Hause war und sich breitmachen konnte, finden sich heute Ackerflächen oder gar bebaute Areale, wie Wohnsiedlungen und Gewerbegebiete. Die großen deutschen Ströme haben auf diese Weise 80 bis 90 Prozent ihrer natürlichen Überschwemmungsflächen verloren. So ist es nur allzu verständlich, dass es für einen Fluss zu eng wird, wenn große Wassermassen anfallen, aber nicht aufgenommen werden können. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als nach einem Ausweg zu suchen. Und wo sucht er? Er sucht sein altes, breites Bett. Irgendwo und irgendwann bricht er aus und verlässt sein enges Korsett. Dabei nimmt er keine Rücksicht darauf, ob dort Menschen wohnen oder nicht. Schon Bertolt Brecht hatte es erkannt: »Der Fluss wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.« Der Fluss ist nicht böse. Es entspricht seiner Natur, Wasser aufzunehmen und Wasser abzuführen, von seinen Quellen bis zur Mündung – soweit man ihn lässt.
Bauen in Auen
Aber nicht nur die Flusslandschaften haben sich durch den Einfluss des Menschen grundlegend geändert, auch das Klima hat sich gewandelt. Neben Hitze- und Trockenperioden werden sintflutartige Regenfälle immer häufiger. Mal haben wir zu viel Wasser, mal zu wenig. Und weder das eine noch das andere ist vorhersagbar. Wir werden immer wieder aufs Neue überrascht – und meist böse: Hochwasser, Tornados, Waldbrände, Staubstürme… Das unbekümmerte Verbrennen von Öl und Kohle seit Anfang der Industrialisierung beginnt sich gnadenlos zu rächen. Der Kampf gegen die Aufheizung und Verwüstung des Planeten wird zur Überlebensfrage.
Hochwassergefahr geht keineswegs nur von den großen Flüssen wie Rhein, Donau, Elbe und Oder aus. Die jüngere Vergangenheit hat uns gelehrt, dass jedes noch so kleine Flüsschen zerstörerische Kräfte entwickeln kann. Die Wilde Weißeritz ist uns noch in Erinnerung, wie sie 2002 den Dresdner Hauptbahnhof flutete. 2011 hat es die Schwarze Elster in der Lausitz durch Hochwasser zur unrühmlichen Berühmtheit gebracht. Wenig später zeigte sich die Neiße von dieser unerfreulichen Seite. Sogar Städte, die auf den ersten Blick nichts mit Flüssen zu tun haben und weit entfernt von den großen Strömen liegen, können in Fluten versinken, so wie 2013 Teile der Messestadt Leipzig.
Je nachdem, wo gerade die Regenmassen niedergehen, gibt es Betroffene, denn menschliche Siedlungen liegen in der Tat meist an einem Fließgewässer. Wohnen am Wasser liegt im Trend. Der Blick auf Wasserflächen beruhigt. Doch das muss nicht immer so bleiben. Mit jeder Flutkatastrophe nimmt auch die Beunruhigung zu.
Unsere Vorfahren suchten ihre Wohnplätze ebenfalls gern am Wasser, einfach weil es überlebensnotwendig war. Flüsse und Auen boten alles Wichtige: neben dem Wasser auch Nahrung wie Fische und Wild, Baustoffe wie Holz und Lehm sowie Holz als Heizmaterial. Zudem waren die Auen fruchtbare Weidegründe für Schafe, Ziegen und Kühe. Doch begegnete man dem Fluss mit Demut und hielt einen respektablen Abstand ein, wenn es ums Bauen ging. Die Kirchen standen immer auf den höchsten Punkten, den heiligen Plätzen, sie waren hochwassersicher. Drumherum reihten sich Wohnhäuser. Je mehr der Ort wuchs, umso näher kam man den Überflutungsauen und damit der Gefahr der Überschwemmung. Einfache Schutzwälle zunächst und später Deiche sollten sie bannen. Man vertraute ihnen allzu leichtfertig. Bauen in Auen wurde normal. Neue Wohngebiete und Gewerbeflächen breiteten sich aus, wo noch vor Jahrhunderten der Fluss sein Zuhause hatte. Gerade in den letzten Jahrzehnten ging der Respekt vor dem Fluss verloren. An seine Stelle traten Technikgläubigkeit und das Vertrauen in die Ingenieurskunst. Doch Deiche sind ähnlich sicher wie Regierungsprogramme zur Rente.
Die Lehren von 2002 – vergessen
Im Jahre 2002 brachte sich die Elbe damit in Erinnerung, daß sie auch extremes Hochwasser führen kann. An derartige Pegelstände konnte sich kein Mensch erinnern. Wie auch? Die letzte, fast ebenso hohe Flut ereignete sich an der Mittelelbe im April 1845. Bei dem Augusthochwasser 2002 brachen an der Elbe über 20 Deiche. Die Fluten ergossen sich vor allem in Nordsachsen und im angrenzenden Gebiet Anhalt-Wittenberg in die ehemaligen Auen. Felder, aber auch Ortschaften standen unter Wasser. Niemand hätte es für möglich gehalten, daß die Elbe eine Breite von vielen Kilometern einnehmen konnte. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Die Einsicht wuchs: Der Fluss braucht mehr Raum. Da die Elberegion vergleichsweise dünn besiedelt ist, gibt es noch viel freie Fläche, die dem Fluss bei einer Flut gezielt angeboten werden kann. Besser, dem Fluss planvoll und vorsorglich Platz einräumen, als von ihm unplanmäßig überrascht zu werden. Wasser sollte wieder in die Auen gelenkt werden, damit es nicht in den Wohnzimmern landet. So plante die Staatsregierung in Sachsen an 49 Flussabschnitten mehr Überschwemmungsfläche. Auch Sachsen-Anhalt hatte ähnlich viele Möglichkeiten, um Deiche, die zu nah am Strom gebaut worden waren, zurückzuverlegen und mehr Freiraum für den Fluss zu schaffen. Doch mit den fallenden Pegeln sank auch die Begeisterung für derartige Pläne. Man glaubte wohl, noch 100 Jahre Zeit zu haben, schließlich sprach man 2002 vom Jahrhunderthochwasser, das laut Statistik erst nach dieser Zeit wiederkehren sollte.
So floss das Geld in andere Kanäle. Sachsen steckte 530 Millionen Euro in die Erhöhung der alten Deiche, aber nur fünf, also knapp ein Prozent dieser unvorstellbar großen Summe, in Projekte, um dem Fluss mehr Raum zu geben. Auch die anderen Bundesländer hielten es weitgehend so: Die alten Deiche wurden erhöht, verstärkt, aufgerüstet, ohne dem Fluss planmäßig einen Teil seiner Auen zurückzugeben. Eine Kriegserklärung an ihn. Und darum blieb es nach wie vor eng, zu eng für eine mögliche große Flut. So kam es, wie es kommen musste: Im Juni 2013 blieb der Elbe nichts anderes übrig, als mit hoher Geschwindigkeit und nie dagewesenen Hochwasserscheiteln stromab zu fließen. Die Deiche hielten diesmal weitgehend in Sachsen, brachen aber anderswo: in Breitenhagen und Fischbeck. Die Massen ergossen sich in die weiten Ebenen des Elbe-Saale- und des Elbe-Havel-Winkels. Die Hochwasserschäden, so die Versicherungen in einer ersten Abschätzung, liegen 2013 bei zwölf Milliarden Euro, also deutlich höher als 2002. Die Probleme wurden durch alleinige Aufrüstung der Deiche nicht gelöst, sondern nur verlagert. Die Bewohner am Mittel- und Unterlauf hatten auszubaden, was am Oberlauf der Elbe falsch lief. Eine intelligente, nachhaltige und solidarische Flusspolitik ist das nicht!
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang: Die Elbe hatte 2013 in Dresden einen Maximalpegelstand, der 60 Zentimeter unter dem von 2002 lag. Es kam also deutlich weniger Wasser vom »Dach der Elbe«, aus Böhmen. Es »fehlten« insgesamt 300 Kubikmeter pro Sekunde, das entspricht der mittleren Wasserführung der Elbe! Es hätte alles gar nicht so schlimm werden müssen. Doch schon vor Dessau drehten sich die Verhältnisse. Die Pegelstände lagen in Sachsen-Anhalt einen halben Meter höher als 2002 und erreichten absolute Rekordwerte. Es fehlten Entlastungsflächen, die der Fluss sich 2002 durch die Deichbrüche genommen hatte. Der »Erfolg« des einseitig technischen Hochwasserschutzes ohne Rückgewinnung von Überschwemmungsflächen steigerte die Schäden und das Leid der Menschen flussabwärts.
Steuergelder in Flüsse versenkt
Am fehlenden Geld kann es nicht gelegen haben, dass den Flüssen nicht mehr Raum gegeben wurde. Eher am fehlenden politischen Willen. Neben den Hunderten Millionen Euro, die für den einseitig technischen Hochwasserschutz, den Deichbau, ausgegeben wurden, flossen ebenso Hunderte Millionen in den Ausbau der Wasserstraßen Elbe und Saale. Das verfolgte Ziel war die Verlagerung des Verkehrs auf das Binnenschiff und die Gewährleistung einer Mindesttiefe für Frachtschiffe. Beide Ziele wurden komplett verfehlt. Die Millionen sind verbaut, aber es fahren immer weniger Transportkähne auf der Elbe. Und auch dem Hochwasserschutz halfen diese Investitionen nicht. Weit über 100 Millionen Euro wurden zudem in den Ausbau von Häfen an Elbe und Saale gesteckt, so für Dresden, Riesa, Mühlberg, Torgau, Roßlau, Aken, Halle an der Saale, Schönebeck und Wittenberge. Doch es kommen selten Schiffe in diesen Häfen an. Mal haben die Flüsse zu viel Wasser, so dass sie für die Schifffahrt gesperrt werden müssen. Oft führen sie aber zu wenig Wasser, monatelang, vor allem im Sommer und im Herbst. Da geht dann nichts mehr. Man weiß es seit Jahrzehnten: Die Elbe ist im Gegensatz zu Rhein und Donau ein ausgeprägter Niedrigwasserfluss, der aus dem Mittelgebirge und nicht aus den Alpen kommt. Doch dies wollten die mächtigen Industrie- und Handelskammern nicht gelten lassen, sie wollten für die Bauwirtschaft Aufträge sichern. So wurde tüchtig geplant und geklotzt, ohne dass ein erhöhter Verkehr in Aussicht war. Die regierenden Politiker bewilligten diese offensichtliche Verschwendung von Steuergeldern. Das Geld floss in Strömen – weniger für den Hochwasserschutz als für fragwürdige Wasserstraßen- und Hafenprojekte mit entsprechender Lobby, die allein vom Bau zu profitieren hoffte. Fatale Fehlinvestitionen – serienweise.
Im Hafen Halle an der Saale, für 31 Millionen Euro hochmodern ausgebaut, wurde fünf Jahre lang kein Schiff gesehen. Dann kam plötzlich eins und dann wieder lange keins mehr. Es scheint ganz so, als ginge es lediglich um Bauaufträge, die der Steuerzahler finanziert. Ob dabei ein Nutzen für die Allgemeinheit generiert wird, ist wohl nebensächlich. Schlimmer noch: Alle diese Häfen erwirtschaften Jahr für Jahr hohe Defizite, da die meiste Zeit Stillstand vorherrscht. Diese Verluste wiederum haben die Gemeinschaft, meist die Kommunen oder die Länder, zu tragen. Gerade den Häfen hat nun das Hochwasser schwer zugesetzt. Die Schäden dort bezifferten sich 2013 auf 15 Millionen Euro – eine zusätzliche Last für die gebeutelten Kommunen.
Die Schuldfrage
Nach einer Hochwasserkatastrophe wird bei aller Solidarität auch irgendwann die Schuldfrage gestellt. Warum wurde diese und jene Hochwasserschutzmaßnahme nicht realisiert, obwohl die entsprechende Schwachstelle lange bekannt war? Für den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), war die Antwort rasch gefunden: Der Naturschutz ist schuld! So klang es 2013 in Dessau-Roßlau an der Elbe, wo wiederum, wie schon 2002, das Wasser über die Rossel, einen Nebenfluss, in die Stadt drückte und die Straßen in Wasserwege verwandelte. Ein Schöpfwerk hätte Abhilfe schaffen können, das war längst klar. Doch jahrelang tat sich nichts. Irgendwann wurde mit der Planung begonnen. Und dabei tauchte eine Libelle auf, die in der Region lebende Flussjungfer, die europaweit unter Schutz steht.
Diese Großlibelle haben nicht irgendwelche Naturschützer entdeckt, die mit Keschern über die Wiesen streifen, sondern die zuständige Behörde hat es gemerkt. Das ist auch ihr Job: nämlich die europäischen Gesetze einzuhalten, in diesem Falle die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie. Eine Lösung für den Erhalt ihres Lebensraums hat sich ohne Planungsstopp sehr bald finden lassen, indem ein Teil der Rossel weiterhin frei fließt. Die Flussjungfer kann daher trotz des Schöpfwerks weiter surren. So wurde schließlich die Baugenehmigung erteilt. Es hätte mit den Arbeiten losgehen können. Doch die Landesregierung stellte kein Geld zur Verfügung. Es herrschte über ein Jahr lang Bauruhe. Dann kam der Juni 2013, und das Wasser floss wieder in die Straßen Roßlaus. Um das eigene Versagen nicht einzugestehen, erfand der Ministerpräsident die Mär von der Bauverzögerung durch die Flussjungfer. Das ist keineswegs ein Einzelfall. Auch in anderen Bundesländern wurde Schwarzer Peter gespielt.
Besagter Ministerpräsident beschwört auch immer wieder DIN-gerechte Deiche. Die Hälfte seien schon danach errichtet worden, und bald sollen es alle sein, so hat er verlauten lassen. Das Wahlvolk soll sich somit in Sicherheit wähnen. Sind die Deiche nach deutscher Normung das Allheilmittel gegen Hochwasserkatastrophen? Es ist eher eine trügerische Sicherheit. Jedes technische Bauwerk kann auch versagen. Dann stürzen die Fluten in die besiedelten und tiefer liegenden Altauen. Die Deiche immer höher zu bauen ist nichts anderes als eine Symptombekämpfung, eine vorübergehend den Schmerz stillende Tablette. Die Fragen nach den Ursachen, nach der eigentlichen Krankheit werden dabei nicht gestellt.
Aufrüstung führt nicht zum Frieden. Auch die einseitige Aufrüstung der Deiche schafft keinen Frieden mit dem Fluss. Man muss immer auf der Hut sein und die Deiche unterhalten, damit sie dem wachsenden Druck von der Wasserseite her standhalten und nicht brechen. Wie erlangt man Frieden? Die »Verhandlungen« können nur darin bestehen, die extremen Hochwasserstände zu senken, um den Druck auf die Deiche zu mildern. Dafür gibt es mehrere Wege.
Nachhaltiger Hochwasserschutz
Hochwasser entsteht meist nicht dort, wo es den größten Schaden anrichtet, wie etwa in den Siedlungsgebieten. Es entsteht, wie man sagt, »in der Fläche«, im Wassereinzugsgebiet, also in der Landschaft. Die entscheidende Frage ist, ob das Wasser von der Landschaft aufgenommen, quasi aufgesogen wird, ähnlich einem Schwamm, oder ob es auf kürzestem Wege fortgeleitet wird und schnell abfließt. Es gibt Landschaften, die Wasser besonders gut aufnehmen können, wie intakte Moore, Wiesen und Mischwälder. Dort kann es oberirdisch in Senken wie auch unterirdisch durch Versickerung im Boden gespeichert werden. Auch Äcker könnten dies, sofern die Böden durch die schwere Technik nicht zu stark verdichtet sind. Versiegelte, betonierte oder asphaltierte, Flächen nehmen dagegen kein Wasser auf.
Leider sind die meisten natürlichen Wasserspeicher nicht mehr intakt. Moore und Nasswiesen sind entwässert. Tiefe Gräben oder ein dichtes Rohrnetz leiten das Wasser schnellstmöglich fort. Da dies überall so gehandhabt wird, fallen nach Starkniederschlägen riesige Wassermengen in kürzester Zeit an, und die Bäche und Flüsse treten über ihre Ufer. Die Begradigung der Fließgewässer tut ein übriges. Genau an dieser Stelle muss im vorsorgenden Hochwasserschutz zuvorderst angesetzt werden. Aufgabe ist es, Wasser für Trockenzeiten in der Landschaft zurückzuhalten sowie dessen Abfluss zu bremsen, also das Wasser entschleunigen. Dazu bedarf es der Renaturierung von Mooren, Wiesen und Wäldern sowie Bächen und Flüssen. Sie müssen wieder funktionsfähig gemacht werden, um Wasser aufhalten und speichern zu können. Gleichzeitig müssen die Bäche und Flüsse zumindest einen Teil ihrer natürlichen Überschwemmungsflächen zurückbekommen. Auf einen Nenner gebracht: Breitwasser statt Hochwasser. Nur so werden die Risiken nachhaltig gesenkt. Das kann und das muss faktisch in jeder Kommune angegangen werden, denn die Verursacher der Hochwasserkatastrophen sind nahezu überall zu Hause.
Es ist der falsche Weg, das Wasser total zu verdammen. Denn irgendwo muss es ja hin, wenn es in Massen kommt! Und es kommt in Massen, immer wieder und immer häufiger, dessen können wir uns sicher sein. Deshalb brauchen wir einen nachhaltigen, einen ökologischen Hochwasserschutz. Es ist eine der großen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft. Schließlich geht es um unser Überleben.
Wer da behauptet, das ginge alles gar nicht und man müsste dann auch die Landschaften entvölkern, der irrt. Es geht sehr wohl, Mensch und Natur zugleich zu schützen. Gerade im Verhältnis von Ökologie und Hochwasserschutz ist eine Win-win-Situation möglich. Mahner hat es immer gegeben, die daran erinnerten, dass die Flüsse ihren Raum brauchen. Doch sie wurden nicht ernst genommen.
Dabei gibt es genügend Beispielprojekte, die zeigen, wie es anders gehen kann. In Lenzen, im Nordosten Brandenburgs, hat unter Federführung des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V.) die Elbe durch eine Deichrückverlegung über 400 Hektar Überflutungsfläche zurückbekommen. Nun fließt ein Drittel der Wassermenge bei Hochwasser nicht mehr durch einen engen Schlauch, sondern in eine weite Auenlandschaft. So wird der Hochwasserstand gesenkt, gut für Lenzen, für Schnackenburg und Wittenberge. Eine weitere Deichrückverlegung läuft derzeit im Raum Dessau bei Lödderitz. Von diesen ökologischen Hochwasserschutzprojekten braucht es viele Dutzend an der Elbe, an ihren Nebenflüssen und auch anderswo – eine große Herausforderung.
Es ist unstrittig: Hochwasserschutz kostet Geld. Aber kein Hochwasserschutz oder auch einseitig technischer Hochwasserschutz kostet noch sehr viel mehr Geld. Die Schäden von 2002 und 2013 liegen jeweils nahezu im zweistelligen Milliardenbereich. Dem Fluss dagegen mehr Raum zu geben, das ist deutlich kostengünstiger. Eine Studie der Technischen Universität Berlin legt offen, dass der finanzielle Nutzen des ökologischen Hochwasserschutzes die Kosten um das Dreifache übersteigt. Dieses Ergebnis sollte überzeugen. Ob nun die jüngste Hochwasserkatastrophe an der Flusspolitik in Deutschland etwas grundlegend ändert, wird erst die Zukunft zeigen.
Ernst Paul Dörfler ist Projektleiter des BUND-Elbeprojekts. 2010 wurde er mit dem Euro-Natur-Preis ausgezeichnet. Weitere Informationen siehe www.elbeinsel.de