Pipeline unter Feuer

Warum Nord Stream 2 verhindert werden soll1

Seit vielen Jahren bin ich friedens- und umweltpolitisch tätig. Für mich waren und sind im Gang der Geschichte die räumliche Ausdehnung von Macht und Herrschaft, die Erweiterung von Einflusszonen, Fragen zu Zugang und Besitz von Rohstoffen immer eine bestimmende Größe für Krisen und Kriege gewesen. Deshalb bin nach der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Untergang der Sowjetunion den Konflikten, Krisen und lokalen Kriegen im Kaukasus und Mittelasien nachgegangen, dem „weichen Unterleib“ der ehemaligen Sowjetunion. Danach richtete sich mein Blick auf den Bereich der Ostsee, als die ersten Auseinandersetzungen um die Ostseepipeline in den 2000er Jahren ihren Lauf nahmen. Beim Kasseler Friedensratschlag referierte ich dazu und veröffentlichte einige Beiträge. Meinem Vortrag möchte ich nur einige wenige Zahlen und Fakten zur Ostseepipeline voranstellen, um mich dann näher mit dem gestellten Vortragsthema zu befassen.

1. Die Ostseepipeline – Zahlen, Fakten

Die Ostseepipeline besteht aus zwei Pipelines:

  • Nord Stream 1: in Betrieb seit 2011 bzw. 2012;
    Gazprom verfügt über eine Mehrheit.
  • Nord Stream 2: im Bau, Betrieb geplant: Ende 2019;
    Gazprom zu 100% Eigentümer

Beide Pipelines haben eine Gesamtkapazität von 110 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr.

Die beiden Pipelines sind mit drei Pipelines in Deutschland zur Weiterleitung des ankommenden Erdgases verbunden. Über eine Holding halten die BASF und Gazprom die Mehrheit an den drei Pipelines:

  1. NEL = Nordeuropäische Erdgasleitung
  2. OPAL = Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung
  3. EUGAL = Europäische-Gas-Anbindungsleitung (im Bau, Betrieb geplant: Ende 2019, Ende 2020)

Diese drei Pipelines speisen das Erdgas in große Fernleitungsnetze ein und bringen es zu den Absatzmärkten in Westeuropa, Osteuropa, Süd- und Südosteuropa.

Beide Konzerne haben eine starke Position auf dem deutschen und europäischen Gasmarkt. Deutschland ist zu einer wichtigen Drehscheibe für die Erdgasversorgung in der EU ausgebaut worden.

2. Das Panorama der großen Politik auf dem eurasischen Kontinent

Zum Hintergrund der Konflikte mit Russland sollen nachstehend einige, aus meiner Sicht wichtige Punkte vorgestellt werden.

Imperiale statt gesamteuropäische Politik der EU nach 1990

Nach dem Ende des Staatssozialismus wurde eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands verhindert und die Charta von Paris bewusst nicht eingelöst. Beides hätte natürlich auch enge wirtschaftliche Zusammenarbeit bedeutet. Im Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit Russland wurden bereits erste, gegen das Land gerichtete, imperiale Züge der EU sichtbar. Diese imperiale Politik setzte sich mit der europäischen Nachbarschaftspolitik fort, in der Russland ein Partner ist. Das Abkommen wurde unter Regie von Jelzin im Jahre 1994 abgeschlossen und lief 2007 aus, ist aber bislang nicht aufgekündigt. Im Kern wurde hier die Übernahme europäischer Rechtsnormen in russisches Recht gefordert, aber keine Beitrittsoption geboten. Demgegenüber erhielten die mittel-/osteuropäischen Länder vielfältige Unterstützung und die Beitrittsoption. Diese imperiale Politik setzte und setzt sich mit der 2003 eingeführten europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) fort. Russland hat es daher abgelehnt, sich auf diese einzulassen. Nicht zuletzt deshalb, weil es befürchtete, dass seine Anstrengungen zur Stärkung der GUS-Integration und vor allem für einen Gemeinsamen Wirtschaftsraum innerhalb der GUS untergraben würden. Stattdessen wurde 2003 zwischen der EU und Russland eine gesonderte Zusammenarbeit im Rahmen der „vier gemeinsamen Räume“ beschlossen, die aber kaum von praktischer Relevanz und strukturell spannungsgeladen ist. Vor kurzem hat das EU-Parlament angesichts von Krim-Krise, Syrienkrieg und dem Konflikt in der Süd-Ostukraine das Ende der strategischen Partnerschaft mit Moskau gefordert.

Die Europaabgeordneten der LINKEN kritisieren zu Recht den mit der „ENP praktizierten Export politischer und wirtschaftlicher Reformen sowie die hiermit verbundene direkte und indirekte Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen in den ENP-Ländern als den den Grundprinzipien des Völkerrechts und des Systems der internationalen Beziehungen widersprechend, wie es sich im Ergebnis des Westfälischen Friedens herausgebildet hat“.

Kampf um Hegemonie auf dem eurasischen Kontinent

Russland wird seit Antritt der Präsidentschaft von Putin im Jahre 2000 zunehmend als gefährlich und expansiv seitens der EU und den USA eingestuft. Deshalb begann der Ausbau der Vormachtstellung in Osteuropa politisch, wirtschaftlich und militärisch. Aber es geht um mehr. Die USA sehen ihre hegemoniale Stellung als Weltmacht bedroht durch den Aufstieg Chinas zur Weltmacht, das seit kurzem mit einem riesigen Infrastrukturprojekt (Projekt „Neue Seidenstraße“) zur Erschließung des eurasischen Kontinents begonnen hat. Hinzu kommt eine zunehmend handlungsfähige Großmacht Russland, die zudem seit einiger Zeit enger mit China kooperiert. Dieser Stellungskampf wird mit wachsender Härte auf dem eurasischen Kontinent ausgetragen. Die EU ist selbst dabei, hier eine führende Rolle zu spielen und auf globaler Ebene aufzubauen. Die USA geraten damit in Konkurrenz mit der EU als Ganzer und anderen großen Mitgliedstaaten, insbesondere mit Deutschland.

Sperrriegel gegen Russland von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer

Vor diesem Hintergrund haben die USA seit langem zusammen mit ihnen treu ergebenen Staaten gegen Russland einen „Sperrriegel“ von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer aufgebaut. Im Ostseebereich wurde Polen bereits 1999 Nato-Mitglied. Die baltischen Staaten zogen 2004 nach. Dieser Sperrriegel hat objektiv bereits zu Spaltungsprozessen in der EU geführt. Er wurde zugleich durch die skandinavischen Staaten bis hinauf zur Barentssee im Hohen Norden erweitert. Norwegen und Dänemark sind Mitglieder der Nato. Dänemark und Schweden zeichnen sich durch besondere Aggressivität gegen Russland aus. Die immer wieder behauptete Bedrohung durch Russland ist nicht nur aktuell, sondern auch historisch falsch. Russlands Politik war und ist aufgrund seiner großen räumlichen Ausdehnung und dem notwendigen Zusammenhalt seiner vielen Völkerschaften nach außen hin generell von defensiver Grundhaltung bestimmt.

Dämonisierung Russlands –
Boden für neue Weltkriege

Die behauptete Bedrohung durch Russland ist gleichzeitig von Dämonisierung begleitet. Das wärmt erfolgreich alten Russen- und Völkerhass auf. Jede Kritik am neu entstandenen Staatskapitalismus in Russland ist fast durchweg in den Massenmedien, großenteils seitens der bürgerlichen Parteien und zahllosen NGO unterschwellig von Abschätzigkeit, Verachtung und Hass auf Russen getragen. Das bereitet den Boden für neue Weltkriege auf dem eurasischen Kontinent. Hier war der Schauplatz aller großen Weltkriege mit unendlichem Leid und Schrecken für die Völker.

Sanktionen gegen Russland nehmen kein Ende

Russland wird seit 2014 mit einer Fülle von Sanktionen seitens der EU und den USA belegt. Russland antwortete entsprechend seinen Möglichkeiten in kleinerem Umfang mit Gegensanktionen. Grund für die Sanktionen sind russische Antworten auf den vom Westen beförderten Umsturz in der Ukraine. Hierzu zählt die russische Unterstützung der Separatisten in der Süd-Ost-Ukraine und die politische Entscheidung Russlands zur Integration der Krim in sein Staatsgebiet. Maßgeblich für diese Entscheidung war die herausragende Bedeutung der Krim als Standort für seine Schwarzmeerflotte. Die Auseinandersetzungen finden kein Ende und stets wird Russland die Schuld in die Schuhe geschoben. So der Abschuss von MH 17 in der Ostukraine oder zuletzt der Zwischenfall in der Wasserstraße von Kertsch.

Gazprom hält Stellung im Westen
und baut sie nach Osten aus

Gazprom hat seit langem eine starke Stellung auf dem europäischen Gasmarkt. Allerdings gestaltet sich die Suche nach störungsfreien und wirtschaftlich tragfähigen Transportwegen für sein Erdgas in Europa zunehmend schwierig. Dennoch ist die Umgehung der Ukraine als Transitweg großenteils abgeschlossen. Es ist keine Erweiterung der Gesamtkapazität für russische Erdgaslieferungen, sondern im Kern nur eine Verlagerung der Transportwege. Nach Osten hin baut Gazprom seine Stellung zur Versorgung Chinas aus. So wird der Bau einer großen Gaspipeline mit einer Kapazität von 38 Milliarden Kubikmeter pro Jahr voraussichtlich Ende 2019 abgeschlossen sein. Außerdem beginnt Russland endlich damit, nicht nur Erdgas zu verkaufen. Große Chemiekomplexe sind im Entstehen, mit denen Erdgas zu wichtigen Chemieprodukten für den Markt verarbeitet werden kann.

Im Hintergrund der Konflikte um Gazprom werden konkurrierende und teilweise miteinander kooperierende Kapitalinteressen im Energiesektor sichtbar. Darauf ist noch gesondert einzugehen.

3. Zu einigen Meilensteinen der Konflikte mit Russland

Vor dem Hintergrund des eben ein wenig ausgebreiteten, großen Politik-Panoramas entfalteten und entfalten sich im Einzelnen zahlreiche, miteinander verwobene, konfliktträchtige Entwicklungen mit einer Vielzahl an Akteuren rund um das Pipelineprojekt. Im Folgenden nur knapp gehaltene Hinweise zu einigen, von mir als besonders bedeutsam gehaltenen Meilensteinen, die das Verhältnis zu Russland nach und nach immer mehr verschlechtert haben:

Anfangs war die Ostseepipeline noch im europäischen Interesse

Frühe, eigene Planungen der EU in den neunziger Jahren sahen den Bau einer Ostseepipeline vor. Sie war als ein „Projekt von europäischem Interesse“ eingestuft und sollte die reichen russischen Erdgasvorkommen mit den sich erschöpfenden Vorkommen in der Nordsee verbinden. Russland griff diese Überlegungen auf. Russland war schon lange damit konfrontiert, dass die Ukraine große Mengen an Transitgas illegal abzweigte und sah kommende politische Probleme mit dem Land. Deshalb die Suche nach Umgehungswegen für den Gastransit durch die Ukraine. Mit der Jamal-Pipeline, die von Russland über Weißrussland und Polen nach Deutschland führt, wurde ein erster Schritt gemacht. Die Ostseepipeline sollte ein zweiter Schritt werden.

Zunehmend handlungsfähiges Russland macht den Westen unruhig

Unter Putin wurde ein nach innen und außen wieder handlungsfähiger russischer Staat aufgebaut. Der Öl- und Gassektor wurde nationalen Interessen untergeordnet (Yukos-Affäre, Entmachtung von Chodorkowski). Gazprom erhielt das Exportmonopol für Pipelinegas von der Regierung. Für den Export von Flüssiggas (LNG) gilt Wettbewerb. Beide Sektoren entwickelten sich zu einem entscheidenden Bereich für staatliche Einnahmen und sich bessernde soziale Wohlfahrt. Der Energy-Charter-Vertrag wurde nicht ratifiziert. Er hätte den Ausverkauf russischer Ressourcen durch ausländische Konzerne bedeutet. All das beunruhigte den Westen.

Gaspartnerschaft Russland-EU – Auftakt zur russischen Gefahr

Im Jahre 2000 vereinbarten EU-Kommissionspräsident Prodi und Präsident Putin eine langjährige Gaspartnerschaft. Prodi hatte dabei sicherlich auch die Interessen des großen italienischen Energiekonzerns ENI im Blick. Diese Gaspartnerschaft und Putins erfolgreiche Aufbaustrategie riefen USA, EU, Transatlantiker auf den Plan. Russland wurde zunehmend als gefährlich eingestuft. Abhängigkeiten in der Energieversorgung wurden als Gefahr gesehen (so insbesondere Frank Umbach, damals noch DGAP). Die Ostseepipeline wurde hierfür stellvertretend instrumentalisiert. Deutsche Thinktanks wie die SWP und die DGAP gerieten unter Druck. Inhaltliche Positionsänderungen und personelle Wechsel wurden längerfristig sichtbar (so der Abgang von Alexander Rahr). Die Massenmedien waren und sind entscheidend am Aufbau des neuerlichen Feindbilds Russland beteiligt.

Warum die EU mehr und mehr von der Ostseepipeline abrückte

Mit der Aufnahme Polens und der baltischen Staaten im Jahre 2004 in die EU und dem Ende der Amtszeit von Prodi verstärkten sich die antirussischen Reflexe in der EU. Das wirkte sich dann auch inhaltlich und personell auf Ebene der EU-Kommission aus. Die Gaspartnerschaft wurde ad acta gelegt und die Ostseepipeline zur großen Gefahr erklärt. Man erkannte mehr und mehr, das mit der Ostseepipeline die Hebel zu schwinden begannen, Russland gefügig machen zu können beim Gastransit (Gebühren, Mengen etc.). Ab diesem Zeitpunkt begann die EU-Kommission ebenfalls mehr und mehr von der Ostseepipeline abzurücken und hält sie inzwischen nicht mehr für notwendig für die Gasversorgung der EU. Sie lehnt deshalb Gazproms Absicht ab, den Gastransport durch die Ukraine zu reduzieren bzw. einzustellen.

Ohne SPD-Bundeskanzler Schröder keine Ostseepipeline

SPD-Bundeskanzler Schröder unterzeichnete 2005 in seinen letzten Amtstagen im Interesse der Energiekonzerne (samt dem Ausbau ihrer Stellung auf dem deutschen und europäischen Gasmarkt) und der deutschen Stahlindustrie (Konsortium Europipe zum Röhrenbau) eine Absichtserklärung zum Bau von Nord Stream 1. Nicht absprechen würde ich ihm, dass er auch vor dem Hintergrund der Schrecknisse des II. Weltkrieges weiter friedliche Beziehungen mit Russland im Hinterkopf hatte. Mit einer CDU-Kanzlerin Merkel hätte es das nicht gegeben. So aber kamen die folgenden schwarz-roten Bundesregierungen (mit zwischendrin einer schwarz-gelben Koalition) nicht umhin, das ungeliebte Kind weiter groß zu ziehen. Nord Stream 1 wurde 2011 bzw. 2012 komplett in Betrieb genommen. Planungen für Nord Stream 2 setzten 2011 ein. Sie soll Ende 2019 fertig gebaut sein.

Der lange Kampf der EU-Kommission gegen Nord Stream 1 und 2

Seit ungefähr 2006 verfolgte die EU-Kommission, inzwischen seit einigen Wochen eng abgestimmt mit Rat und der großen Mehrheit im Europaparlament, auf mehreren Wegen das Ziel, der Ostseepipeline das Leben schwer zu machen. Den Betrieb von Nord Stream 1 galt es zu behindern und die Pipeline Nord Stream 2 sollte entweder nicht zu Ende gebaut oder möglichst unwirtschaftlich betrieben werden. So wurden die Gasstreits zwischen der Ukraine und Russland in den Jahren 2005/2006, 2007/2008 und 2009 über Transitbedingungen und Gaspreise zum willkommenen Anlass, sich nach alternativen Versorgungsquellen umzuschauen. Hierzu gehört das letztlich gescheiterte Pipelineprojekt Nabucco. Gleichzeitig tauchten erste Überlegungen zum Aufbau einer Flüssiggas-Infrastruktur (LNG) auf, die dann aber erst nach dem Gasstreit 2014 großräumig an Fahrt aufnahm. Inzwischen sorgt außerdem Schubumkehr (reverse flow) in den Leitungen nach Osten dafür, das rund ein Drittel des in Europa kreisenden Erdgases von West nach Ost zurückfließen kann. Damit können Polen und die Ukraine über die EU mitversorgt werden (s. unten) – mit Erdgas, das zu großen Teilen aus Russland stammt. Seit geraumer Zeit ist Polen dabei, selbst Akteur auf dem Gasmarkt zu werden und sich zugleich unabhängiger zu machen von russischem Erdgas. Zusammen mit Dänemark und Fördermitteln der EU wird die Gaspipeline „Baltic Pipe“ bis 2022 gebaut. Zu diesem Zeitpunkt endet ein Versorgungsvertrag mit Gazprom. Die Pipeline führt durch die Ostsee, kreuzt Nord Stream 2, hat eine Kapazität von 10 Milliarden Kubikmeter pro Jahr und wird durch norwegisches Gas gespeist. Inzwischen versucht Dänemark – das den USA treu verbunden ist und sich sicherlich mit ihnen wie auch der EU-Kommission eng abgesprochen hat – dem Projekt Nord Stream 2 Schaden zuzufügen, indem es bislang weder Genehmigungen zum Bau der Pipeline in seinen Hoheitsgewässern noch in den Gewässern seiner Allgemeinen Wirtschaftszone erteilt hat.

Besondere Bedeutung für die Auseinandersetzungen mit Russland kam der Gasmarkt-Richtlinie der EU aus dem Jahre 2009 zu. Sie diente dem Umbau des gesamten europäischen Gasmarkts und seiner Akteure. Die im Gasbereich tätigen Unternehmen wurden gezwungen, Leitungsbetrieb und Gastransport zu trennen. Diese Regelung sollte dann auch für Gazprom gelten. Die EU-Kommission versuchte aber lange vergeblich, anhand dieser Richtlinie den Zugang von Gazprom auf die EU-Gasmärkte zu verhindern. Seit Februar dieses Jahres kann das möglich werden, weil Frankreich im EU-Rat umschwenkte und Deutschland im Regen stehen ließ. Inzwischen hat der EU-Ministerrat am 15.04.2019 die Reform der Gas-Richtlinie abgesegnet. Für Offshore-Pipelines (d. h. Unterwasserpipelines) wie Nord Stream 2 gilt nun die Trennung, sobald sie in die Hoheitsgewässer eines Mitgliedstaates eintreten und verbunden werden mit dem innereuropäischen Gasnetz. Gazprom könnte dieses Hindernis überwinden, indem es die letzten Meilen der Pipeline bis zur Küste einem separaten Unternehmen überträgt. Das müsste dann für die Trennung von Leitungsbetrieb und Gastransport sorgen. Selbst wenn Deutschland das akzeptiert, dann hat nach den neuesten Regelungen der Gas-Richtlinie die EU-Kommission immer noch das letzte Wort. Die Bundesregierung wird hier – so steht zu vermuten – alles daransetzen, damit das Pipeline-Projekt nicht scheitert. Sie steht bislang taktierend und lavierend fest zu Nord Stream 2. Dafür ist nicht nur der Global Player BASF mit Standort Deutschland zu bedeutsam, sondern auch die gesamte deutsche Gaswirtschaft.

OPAL-Pipeline als Druckmittel gegen Gazprom

Die OPAL-Pipeline wurde seitens der Bundesregierung – unter Druck gesetzt von der EU-Kommission – relativ frühzeitig als Druckmittel gegen Russland eingesetzt, immer mit einem Auge auch auf ein „Aus“ für Nord Stream 2. Sie nimmt einen Großteil des Erdgases aus Nord Stream 1 auf und speist es in das Ferngasnetz ein. Sie durfte – etwas verkürzt an dieser Stelle dargestellt – von 2012 bis 2016 nur zur Hälfte ihrer Kapazität genutzt werden. Ab 2014 blieb dieses Druckmittel auch deshalb bestehen, weil Russland nach dem Umsturz in der Ukraine die Krim in sein Staatsgebiet eingliederte. Damit musste Russland mehr Erdgas durch die Ukraine leiten und teuer dafür zahlen (Quellen zufolge ca. 0,5 Milliarden Euro pro Jahr). Inzwischen gilt eine mit erheblichen Auflagen verbundene Genehmigung zur 80 prozentigen Auslastung der OPAL-Pipeline. Dagegen haben die polnische Gasgesellschaft und die polnische Regierung Klagen eingereicht, die inzwischen vor dem EuGH gelandet sind.

EU-Kommission pokert weiter für ukrainischen Gastransit

Inzwischen laufen seit geraumer Zeit Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unter Vermittlung der EU-Kommission zum weiteren Transit von Erdgas. Hintergrund bildet das Auslaufen des Gastransitvertrages zum 01.01.2020. Die EU-Kommission zielt darauf ab, Nord Stream 2 ins Leere laufen zu lassen und unwirtschaftlich zu machen. Ihr Vorschlag sieht für den Gastransit durch die Ukraine eine Mindestlaufzeit von 10 Jahren mit einer Mindestdurchleitungsmenge von 60 Milliarden Kubikmeter pro Jahr vor. Bei Transitgebühren von ca. 1,75 Milliarden Euro pro Jahr ergibt sich über die 10 Jahre eine Gesamtsumme, die fast das doppelte des Baupreises von Nord Stream 2 bedeutet. Das wird Gazprom nicht mitmachen. Es bleibt abzuwarten, ob und welcher Deal getroffen wird, denn die EU ist noch nicht in der Lage, auf russisches Erdgas zu verzichten. Und das ukrainische Gastransitsystem wird auch noch auf absehbare Zeit gebraucht. So kann Nord Stream 2 nicht sofort nach Betriebsaufnahme auf Volllast gefahren werden und zudem wird der Gasimportbedarf in Europa wegen des progressiven Rückgangs der Eigenförderung steigen. Das muss bedient werden, daran will Russland sich beteiligen. Dafür muss nicht nur die Ukraine (Naftogaz) sein veraltetes Gastransitsystem modernisieren, sondern auch Russland seine damit verbundenen Gasleitungen. Beides dämmt die Freisetzung von Methan ein.

Unabhängig davon ist nicht auszuschließen, dass die EU-Kommission im Verhandlungspoker mit dafür sorgt, dass es Anfang 2020 zu einer neuerlichen Gasversorgungskrise wie 2009 kommt, die dann Russland wieder in die Schuhe geschoben wird. Die Ukraine ist im Übrigen in einer guten Verhandlungsposition, da sie – wie weiter oben angedeutet – seit ein paar Jahren kein russisches Erdgas mehr zu importieren braucht. Sie wird aus Westeuropa über die Hintertür (insbes. via OPAL) mit russischem Erdgas versorgt.

Der Kern der Konflikte um Nord Stream 2 liegt weniger im Bereich der Ökonomie als vielmehr in der Verhinderung des Marktzugangs

Über den Konflikten dürfen die marktwirtschaftlichen Gegebenheiten im Rahmen des Finanzmarktkapitalismus in der EU als auch in Russland nicht aus dem Blick geraten. Danach müssen sich die Akteure auf dem Gasmarkt richten. Schon Russlands Planungen für Nord Stream 1 waren in hohem Maße davon bestimmt, möglichst profitabel sein Gas auf die Märkte zu bringen. Eine energieeffiziente und kürzere Trassenführung leistet das und mindert die fälligen politisch oder haushaltsseitig mitbestimmten, also überhöhten, Transitgebühren seitens der Ukraine oder anderer Länder. Das ist im Kontext marktwirtschaftlicher Gegebenheiten ein völlig legitimes und systemkonformes Verhalten von Gazprom. Gazprom hat hier nüchtern nach wirtschaftsliberalen Gesichtspunkten gehandelt. Es ist deshalb nicht sachgemäß, Gazprom eine Schädigung der Ukraine als Motiv zu unterstellen. Auf der anderen Seite darf aber auch Gazprom für die noch notwendige Weiternutzung des ukrainischen Gastransitsystems die Ukraine nicht zwingen, nur zu ihren Bedingungen das Erdgas gen Westen zu transportieren. Es muss ein wirtschaftlich tragfähiges Konzept für die Weiternutzung des Durchleitungssystem auf ukrainischem (und russischem) Territorium gefunden werden. Das ist in beiderseitigem Interesse – Nebeneffekt ist ein friedliches Miteinander trotz aller Gegensätze.

Die Europäische Union hat im Interesse des Finanzkapitals mit der Gasmarkt-Richtlinie die alten Monopole im Gassektor auf ihrem Hoheitsgebiet gezwungen, Leitungsbetrieb und Gastransport zu trennen. Damit wurde das Renteneinkommen der alten Monopole geschmälert, was zu deren Auflösung und Neusortierung führte. Auf dem Hoheitsgebiet der EU ist es deshalb im Kontext dieser Regelungen durchaus legitim, dass Gazprom denen entsprechen muss, wenn seine Gasleitungen EU-Gebiet erreichen. Illegitim ist es aber im Kontext des hochgehaltenen freien Marktes, wenn die EU mit allen Mitteln versucht zu verhindern, dass Gazprom einen kosteneffizienten modernen Zugang zu den EU-Gasmärkten findet. Es geht um die Schädigung des Infrastrukturprojekts Nord Stream 2, indem versucht wird, es unwirtschaftlich zu machen. Das ist der Kern der andauernden Konflikte.

Wie die USA ihre Machtstellung auf dem EU-Gasmarkt ausbauen wollen

Die USA versuchen auf verschiedenen Wegen, ihre Stellung auf dem europäischen Energiemarkt auszubauen. Zum einen soll russisches Gas durch gefracktes Flüssiggas (LNG) vom Markt verdrängt und ihre Machtstellung durch wirtschaftliche Verflechtungen mit Energiekonzernen gefestigt werden. Es bleibt aber abzuwarten, ob LNG aus den USA von den Preisen her hier wirklich fest Fuß fassen kann. In jedem Fall versucht CDU-Bundeswirtschaftsminister Altmaier im Interesse von Nord Stream 2 die USA milde zu stimmen. Deshalb werden derzeit Voraussetzungen – rechtlich und mit viel Fördermitteln – für den Bau von mindestens zwei Flüssiggasterminals an der Nordsee auf den Weg gebracht. Zum anderen verfolgen die USA mit immer härteren Sanktionen das Ziel, Nord Stream 2 noch zu verhindern und gleichzeitig andere russische Energiepipelines zu treffen. Auf Grundlage des CAATSA-Gesetzes („Countering America ́s Adversaries Through Sanctions Act“) werden ausländische Unternehmen bestraft, wenn sie Ausrüstungsgüter etc. dafür liefern. Damit wollen und werden die USA voraussichtlich auch gezielt hohe wirtschaftliche Schäden in der EU und Deutschland anrichten.

Grüner Widerstand gegen Nord Stream 2 und Erdgas

Stellvertretend für politische Parteien und Bewegungen sei an dieser Stelle nur kurz auf den grünen Protest eingegangen. Mit den GRÜNEN als Speerspitze (MdEP Bütikofer, MdEP Harms, Fücks, Beck, MdB Krischer) sind zahlreiche Umweltverbände (siehe Klima-Allianz), NGOs und eine Reihe von Thinktanks (insbes. das ansonsten nicht grüne DIW) gegen Nord Stream 2. Die Ablehnung von Nord Stream 2 und darüber hinaus des gesamten Projekts Ostseepipeline vermischt sich insbesondere bei den GRÜNEN mit offener Russlandfeindlichkeit. Der NABU sorgt sich vor allem darum, dass die Ökosysteme der Ostsee durch den Bau der Pipeline nachhaltig geschädigt werden. Er klagt deshalb dagegen.

Inzwischen wird von großen Teilen der Umweltszene europaweit die Auffassung vertreten, das Erdgas genauso oder sogar klimaschädlicher als Kohle sei. Deshalb müsse der Ausstieg aus Erdgas sofort angegangen und noch weit vor 2050 auf den Weg gebracht werden. Der Ausbau weiterer Gasinfrastrukturen müsse sofort gestoppt werden. Die Brücke Erdgas als Übergang in das Solarzeitalter werde nicht mehr gebraucht. Für die Gefährlichkeit von Erdgas (Hauptbestandteil Methan) wird unter Verweis auf das weit höhere Treibhauspotential von Methan gegenüber Kohlendioxid der sogenannte Methanschlupf ins Feld geführt. Danach entweicht Erdgas vor allem bei Förderung, Transport und Verwendung in die Atmosphäre. Diese Argumentation ist zu pauschal und undifferenziert und in einer Reihe von Begründungen fachlich nicht tragfähig. Abschließend sei an dieser Stelle der Hinweis gegeben, dass die Gegnerschaft zu Nord Stream 2 bereits seit langem schon bis in die Partei DIE LINKE und die RLS hineinreicht.

4. Zusammenfassung

Abschließend möchte ich feststellen, dass

erstens Nord Stream 1+2 das Ergebnis ist einer weithin nicht gewollten gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung nach dem Ende des Warschauer Vertragssystems und der bewussten Nichteinlösung der Charta von Paris. Das Gastransitsystem der Ukraine hätte völlig ausgereicht für die Versorgung der EU. Es ist aber seit langem nicht mehr störungsfrei und wirtschaftlich tragfähig. Deswegen hat Russland seine Gasrouten diversifiziert. Diversifizierung von Rohstoffversorgung, Vertriebs- und Absatzwegen ist weltweit im Big Business üblich. Mit allen Pipelines wird die Exportkapazität Russlands nicht vergrößert, sondern nur die Ukraine umgangen. Ich halte den umstrittenen Bau von Nord Stream 2 im Interesse gegenseitig vorteilhafter und friedlicher Beziehungen für vertretbar. Ob Gazprom seinen Anteil an Europas Gasmarkt noch weiter ausbauen oder halten kann, das hängt von mehreren Punkten ab. Nicht nur von den Transportrouten, sondern auch von Lieferkapazitäten und Preisen der Konkurrenz ab, aber – und das ist am wichtigsten ‒ nicht zuletzt auch von den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für Ausbau und Förderung erneuerbarer Energien.

zweitens auf dem Weg in das solare Zeitalter auf dem eurasischen Kontinent Kooperation zum gegenseitigen Vorteil ist, Entspannung und Frieden gebraucht werden statt Konfrontation und Kriegsgefahren.

drittens der seit einigen Jahren befeuerte Erdgasboom klimapolitisch falsch ist bei gleichzeitig immer stärkerer Be- und Verhinderung des vorrangig dezentralen Ausbaus erneuerbarer Energien. Die Förderung von Fracking-Gas in den USA, immer größere Mengen an LNG auf den globalen Märkten, das Bohren nach den letzten Gasvorkommen in Deutschland, die Suche nach immer mehr Einsatzbereichen für Erdgas wie im Automobilbereich oder Güterverkehr auf der Straße stellen falsche Weichen. Das sind falsche Wege in die solare Zukunft. Die Gasinfrastruktur in der EU braucht keinen weiteren großräumigen Ausbau. Weitere Pipelines aus Drittländern werden nicht gebraucht. Der aufgeblähte und milliardenteure Ausbau der LNG-Infrastruktur ist falsch.

viertens bis 2050 die fossile Dekarbonisierung national, europaweit und global vollständig abgeschlossen sein muss. Dieser gewaltige Umbruch braucht weltweit soziale Grundlagen, Frieden und tiefgreifende Demokratisierungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Umbrüche müssen vor allem in den großen, ressourcenverschlingenden kapitalistischen Industriestaaten vollzogen werden. Erdgas ist als Brücke in das Solarzeitalter unverzichtbar. Sie bildet den Übergang in das erneuerbare Gaszeitalter (Power-to-Gas). Beides ist sinnvoll und ökologisch vertretbar. Hier schließe ich mich Gutachten an, die für Deutschland vorliegen. Für die globale Ebene folge ich den Gutachten des WBGU und der Expertise von Prof. Dr. Sterner.

Dank:

Herrn Dr. Hans-Jochen Luhmann sei herzlich gedankt für wertvolle Informationen und Anregungen.

Dr. Detlef Bimboes,
Mitglied der Ökologischen Plattform bei der Partei DIE LINKE
18.4.2019


  1. leicht überarbeitete und ergänzte Fassung des Vortrages beim MEZ Berlin am 12.4.2019