VGH erklärt Übernachtungsverbote am Dannenröder Forst für rechtswidrig –

und lässt sie trotzdem bestehen

Der Gerichtsentscheid zu Versammlungen gibt Rätsel auf.

Es wirkte wie ein Sieg derer, die gegen die Übernachtungsverbote geklagt hatten. Denn am Nachmittag des 11.9.2020 erklärte der Verwaltungsgerichtshof Hessen die vom RP Gießen ausgesprochenen und vom Verwaltungsgericht Gießen verhängten Übernachtungsverbote im Rahmen angemeldeter Demonstrationen gegen den Weiterbau der A49 für rechtswidrig. Dennoch bleiben sie weiter bestehen. Eine Begründung dafür fehlt.

„Das ist absurd: Die Gründe für die Verbote gelten nicht mehr, aber die Verbote bleiben bestehen“,

schüttelt der klagende Versammlungsanmelder den Kopf. Jetzt will er Verfassungsbeschwerde einlegen. Die Auseinandersetzungen um die Versammlungen gegen den Weiterbau der A49 gehen damit in die dritte Runde – zum Verfassungsgericht in Karlsruhe.

Zähes Ringen ums Versammlungsrecht

Seit drei Wochen ringen A49-Gegner*innen und Versammlungsbehörden nebst Gerichten um die Frage, ob und welche Demonstrationen gegen den Weiterbau der A49 zulässig sind.1 Das Regierungspräsidium Gießen hatte sich mit einem sogenannten „Selbsteintritt“ selbst zur Versammlungsbehörde erklärt. Schon das war umstritten, ist doch die Landesregierung Hessen, zu der das Regierungspräsidium gehört, selbst der Erbauer der Autobahn – und konnte jetzt über den Protest gegen sich selbst richten. Von Beginn an zeigte sich auch die politische Ausrichtung. Mit Falschbehauptungen über Eigentumsverhältnisse und anderen, jetzt vom Verwaltungsgerichtshof korrigierten Rechtsverdrehungen wurden nicht nur mehrere Camps ganz, sondern überall die Übernachtungen und dafür notwendige Infrastruktur verboten. Dreist behauptete das RP in seinen Pressemitteilungen trotzdem, selbige „genehmigt“ zu haben, was leider oft unhinterfragt in Medien übernommen wurde. Dass es einen Rechtsakt wie „Genehmigung“ im Versammlungsrecht gar nicht gibt, war dabei noch das geringere Problem. Schwerer wog, dass das Verbot des Übernachtens faktisch dem Verbot der Versammlung insgesamt gleichkam. Denn der überwiegende Teil der Demonstrant*innen wird vermutlich von außerhalb kommen. Als Begründung für das Übernachtungsverbot nannte das RP, dass Übernachtungen nicht zu Versammlungen dazu gehören. Das gipfelte in der Feststellung, es die Protestcamps seien eher so etwas wie Ferienzeltlager:

Die Unterschiede zu einem regulären Zeltlager scheinen auch nach dem neuerlichen Vortrag zur Anbringung befestigter Transparente und der durchgehenden Beliebtheit des Camps für einen unbefangenen durchschnittlichen Beobachter weiterhin marginal. (Zitat RP)

Dagegen wandte sich in der Hauptsache der Anmelder mit seiner Klage. Die als versammlungsfeindliche 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Gießen, u.a. besetzt mit dem bundesweit in die Schlagzeilen geratenen NPD-Sympathisanten Höfer, wies die Klage glatt ab. Das korrigierte mit Beschluss vom 11.9.2020 der Verwaltungsgerichtshof Hessen. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs sind überdeutlich:

Der beschließende Senat vermag der vom Antragsgegner getroffenen Feststellung, die als Protestcamp angemeldete Versammlung unterfalle nicht dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, soweit dieses den Aufbau und das Bewohnen von Zelten zum Übernachten von Teilnehmern sowie auf eine gewisse Dauer angelegte Versorgungseinrichtungen für die Teilnehmer umfasst und sei schon deshalb zu untersagen, nicht zu folgen. Zwar ist es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach wie vor im Einzelnen ungeklärt, ob und in welchem Umfang Art. 8 Abs. 1 GG die Einrichtung von Protestcamps unter Inanspruchnahme öffentlicher Anlagen schützt (vgl. hierzu zuletzt BVerfG, Beschluss vom 30.08.2020 – 1 BvQ 94/20 -, Rn. 13; Beschluss vom 28.06.2017 – 1 BvR 1387/17 -, juris Rn. 22). Angesichts der seither erfolgten weiteren Entwicklung dieser Protestform und der neuerlich hierzu ergangenen Rechtsprechung stellt sich in der hier im Rahmen des Eil- bzw. Beschwerdeverfahrens vorzunehmenden summarischen Prüfung der vom Antragsgegner festgestellte vollständige Ausschluss des geplanten Protestcamps hinsichtlich der Übernachtungsinfrastruktur aus dem Versammlungsbegriff als offensichtlich rechtswidrig dar. Maßgeblich ist insoweit, dass von dem Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters nach Art. 8 Abs. 1 GG prinzipiell auch die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst wird (vgl. OVG NW, Beschluss vom 16.06.2020 – 15 A 3138/18 -, juris Rn. 54). Der beschließende Senat teilt die vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen vertretene Auffassung, dass es in Fällen wie dem vorliegenden mit einer ge-planten Nutzung der für die Versammlung vorgesehenen Fläche als Dauercamp über einen Zeitraum von 6 Monaten erforderlich, aber auch ausreichend ist, wenn diese Nutzung einen hinreichenden funktionalen und konzeptionellen Bezug zu der Versammlung aufweist und dies jedenfalls dann zu bejahen ist, wenn diese ohne die Übernachtungs-fläche nicht hätte stattfinden können und der ersichtliche Konnex dieser Einrichtung mit der Erreichung/Ermöglichung eines konkreten kommunikativen Versammlungszwecks unverändert notwendige Bedingung für die Berufung auf das Versammlungsgrundrecht darstellt (vgl. dazu OVG NW, a.a.O., juris Rn. 78).

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ist vorliegend eine konzeptionelle und inhaltliche Verknüpfung der Übernachtungsinfrastruktur mit der Versammlung gegeben. Dies folgt daraus, dass der Versammlungsort mit seiner Lage am Waldrand einen hinreichenden Bezug zu dem auch vom Verwaltungsgericht festgestellten Hauptzweck des Protests gegen Räumung und Rodung des Waldes herstellt. Dazu ist auch nicht erforderlich, wie das Verwaltungsgericht meint, dass auf der Übernachtungsfläche selbst eine Meinungskundgabe stattfindet, vielmehr reicht schon der räumlich-funktionale Bezug zwischen der Versammlung und der Übernachtungsfläche aus. Da die dauerhafte, körperliche Anwesenheit von Demonstranten nach Art einer Mahnwache gerade den speziellen Ausdruck des Protests gegen die gleichfalls „körperliche“ Räumung und Rodung darstellen soll, ist auch eine inhaltliche Verknüpfung mit dem Versammlungszweck zu bejahen. Der beschließende Senat vermag auch nicht schon allein darin, dass damit eine „logistische Basis“ für die Baumbesetzer und Aktivisten geschaffen werden könnte, einen versammlungsfremden Zweck zu sehen. Vielmehr besteht dieser gerade darin, die Gründe, die gegen die Räumung, damit die Rodung des Waldes und den Bau der A49 sprechen, zu äußern und ist damit Teil der Meinungskundgabe. Damit verfolgt die Versammlung auch eine körperliche Sichtbarmachung des Themas und des damit auszudrückenden Protestes gegen die körperliche Inanspruchnahme von Wald für den Weiterbau einer Autobahn. Sie erfüllt mithin die geforderte Voraussetzung einer gemeinsamen körperlichen Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren, andererseits schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes im eigentlichen Sinne des Wortes nach außen Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (BVerfG, Beschluss vom 30.08.2020 – 1 BvQ 94/20 -, Rn. 14). Der Senat vermag auch nicht festzustellen, dass es insoweit an der erforderlichen Konkretisierung fehlt. Noch weniger vermag schon wegen des dann eher fehlenden Bezugs zum Thema der Versammlung die Ansicht zu überzeugen, eine Meinungskundgabe müsse nicht notwendig in der Nähe der Rodungsflächen für die geplante Trasse der A49 stattfinden.

Damit ist klar: Die Versammlungsanmelder*innen und Kläger*innen hatten mit ihrer Rechtsauffassung zum Übernachten auf Versammlungen von Anfang an richtig gelegen. Die Verbote waren willkürlich und vermutlich politisch geprägt.

„Hier zeigt sich deutlich: Wer die Macht hat, missbraucht sie“,

lautet einer der noch zurückhaltenden Kommentare aus dem Versammlungsunterstützungsteam im A49-Widerstand.

Übernachtungsverbot ist rechtwidrig – und bleibt bestehen!

Mit der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen diese Ziffer 1 hätte nun also unter dem Schutzbereich des Versammlungsrechts stehen müssen:

  • Aufbau und das Bewohnen von Zelten zum Übernachten von Teilnehmern sowie
  • auf eine gewisse Dauer angelegte Versorgungseinrichtungen für die Teilnehmer.

Aus diesen Fest- und Klarstellungen hätte die Aufhebung des Verbots von Übernachtungen und sonstiger notwendiger Infrastruktur erfolgen müssen. Das aber ist nicht geschehen. Der Verwaltungsgerichtshof hat stattdessen die Verbote sowohl von Übernachtungen als auch des Aufbaus weiterer Infrastruktur bestätigt:

Allerdings bleibt die Beschwerde insoweit erfolglos, als damit über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers hinaus die Aufhebung der zeitlichen Beschränkungen und des Übernachtungsverbots sowie die Zulassung des Aufstellens von Zelten und die Aufhebung der Toilettenauflage begehrt wird.

Eine Begründung dieser wenig überzeugenden Ausführung erfolgte nicht. Obwohl also auch der Verwaltungsgerichtshof dem Übernachten und der sonstigen notwendigen Infrastruktur den Schutz des Versammlungsrechts einräumt, hält es das Verbot weiter für rechtmäßig. Dazu nochmal der Anmelder:

„Das ist absoluter Nonsens.“

Er wird daher Verfassungsbeschwerde einreichen – auch gegen die weiter bestehenden Verbote weiterer Camps.

In einer nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs herausgegebenen Presseerklärung des Antragsgegners im Ausgangsverfahren gibt dieser ausschließlich bekannt, dass das Übernachtungsverbot bestehen bleibt. Dass die eigene Rechtsauffassung korrigiert wurde, wird verschwiegen. Als Gründe für das verbleibende Verbot wird in der Presseinfo ausgeführt:

Der Verwaltungsgerichtshof betont in seinem Beschluss, das RP Gießen habe als Versammlungsbehörde einen Ermessenspielraum. Dieser ermögliche es, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – hierzu zählt der VGH auch die Gesundheit – Auflagen mit Blick auf den Zeitraum, die Dauer und auch der Hygienestandards der Versammlung zu machen.

Solche Gründe hatte der Antragsgegner als Versammlungsbehörde aber nie benannt. Daher ist das Übernachtungsverbot momentan gültig, ohne dass es jemals begründet wurde. Damit stellt es Willkür dar.

Hinweis:

Für den heutigen Samstag, 12.9., haben Gruppen zum Start des ersten Protestcamps aufgerufen. Wie viele Menschen kommen bzw. sich durch das konfuse bis rechtswidrige Vorgehen der Behörden und Gerichte abschrecken lassen, ist nicht vorhersehbar. Das Versammlungsunterstützungsteam wird, wie viele andere A49-Gegner*innen vor Ort sein. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die klare Aussage des Verwaltungsgerichts Gießen, welches das Verbot der Camps auf Wiesen und Sportplätzen wie folgt begründete (Fettdruck hinzugefügt):

Zwar gewährleistet das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung. Allerdings verschafft die Versammlungsfreiheit kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten (vgl. BVerfG, Urt. v. 22.02.2011, 1 BvR 699/06, juris; BVerfG, Beschl. v. 18.07.2015, 1 BvQ 25/15, juris). Gewährleistet ist die Durchführung von Versammlungen jedenfalls für den öffentlichen Straßenraum (vgl. BVerfG, Urt. v. 22.02.2011, 1 BvR 699/06, juris Rn. 65). Bei der seitens des Antragstellers gewählten Örtlichkeit handelt es sich um im Eigentum des Zweckverbandes Mittelhessen Wasserwerke (ZMW) stehende Wiesenflächen in Kirtorf (seitens des Antragstellers angegebene Koordinaten: 50°47’11.9’’N9°01’16.3’’E und 50°47’09.2‘‘N9°01’13.9‘E). Auch wenn es sich bei dem Eigentümer um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts handelt, sind diese in seinem Eigentum stehenden Wiesenflächen weder dem öffentlichen Straßenraum zuzuordnen, noch verfügt der Antragsteller unter einem anderen Gesichtspunkt über die rechtliche Verfügungsbefugnis über die entsprechenden Flächen.

Direkt neben der Wiese, auf der eines der Protestcamps verboten wurde, liegt die Bundesstraße 62 …

Kontakte:

  • Versammlungsanmeldungsteam: 01577-2945538, 01575-8461661 und 06401-903283
  • Anwalt Tronje Döhmer: 06445-9231043

  1. siehe auch https://www.jungewelt.de/artikel/385762.waldbesetzung-in-hessen-man-versucht-teilnehmende-im-vorfeld-zu-kriminalisieren.html