Flatterenergie
Kürzlich erreichte mich die Information über einen Artikel bei RT DE unter dem Titel „‚Flatterenergie‘: Europas Stromnetze um Haaresbreite zusammengebrochen„1 mit dem Teaser
‚Beinahe kam es zum Zusammenbruch weiter Teile des europäischen Stromnetzes. Ähnliche Vorfälle häufen sich. Unabsehbar wären die Folgen auch in Deutschland…‚.
Interessant, in unseren „Qualitätsmedien“ hatte ich darüber nichts gehört oder gelesen. Also ging ich der Sache auf den Grund und fand die ursprüngliche Information der Austrian Power Grid AG2 vom 8.1.21 17:10. Darin heißt es:
„Im synchronisierten europäischen Hochspannungs-Stromnetz ist es Freitagnachmittag um 14:05 zu einer Störung gekommen, welche zu einer Unterfrequenz in Europa mit einer kurzfristigen Frequenzabweichung von rd. 260 mHz geführt hat. Die Detailanalyse des Störungshergangs ist noch im Laufen, der Ausgangspunkt lag jedenfalls außerhalb Österreichs. Dank der funktionierenden europaweit etablierten Schutzmechanismen sowie der umgehenden und abgestimmten Zusammenarbeit der Übertragungsnetzbetreiber konnte der Normalbetrieb für ganz Europa bereits innerhalb rd. einer Stunde wieder hergestellt werden.“
Der RT-Bericht (vom 19.1.2021 21:40) ist demnach kein Fake. Das belegen auch die Daten der Informationsplattform der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber über die durchgeführten Redispatch-Maßnahmen.3
Worum geht es RT DE?
Doch weshalb wärmt RT DE elf Tage später das Thema auf? Einige Zitate sollen genügen:
„Durch den wachsenden Mehrbedarf an Energie und den durch die Energiewende zunehmenden Wegfall deutscher Kern- und Kohlekraftwerke werde Europas Energienetz zunehmend fragiler.“
„Frankreich […] Trotz Warnungen hatte die Macron-Regierung die zwei voll funktionsfähigen Blöcke Fessenheim abgeschaltet. So fehlen derzeit allein dort fast zwei Gigawatt an Leistung, die anderweitig ausgeglichen werden müssen.“
Und dann wird „Michael Limburg (81), Vizepräsident des Europäischen Instituts für Klima und Energie“ als DER Spezialist zitiert:
„Vor 15 Jahren hatten wir drei bis fünf Ausfälle, sogenannte Redispatch-Maßnahmen im Jahr. Heute sind es fünf bis 8.000. Solche Schwankungen haben sehr wohl zugenommen.“
Fazit des RT-Beitrages:
„Bricht die konventionelle Stromversorgung weg, haben wir ein Riesenproblem. Schalten wir die Flatterenergie, die Windenergie runter, halbieren sich die Strompreise.“
Nichts anderes war zu erwarten. RT DE vertritt konsequent atomar-fossile Energieträger im wirtschaftlichen Interesse Russlands.4 Dabei sind RT DE offenbar alle Mittel recht: Selbst Klimaskeptikern (oder besser: längst widerlegten Klimawandelleugnern?) wird Raum gegeben, um ihre rückwärtsgewandten Behauptungen zu verbreiten. Dabei wird auch gezielt Angst geschürt:
„Die Auswirkungen (eines Blackout – W.B.) auf Deutschland im verschärften Lockdown wären unabsehbar.“
und nicht etwa der kapitalistischen Naturausbeutung und der damit verbundenen Erderhitzung, sondern der nur „politisch gewollten“ Energiewende die Schuld zugeschoben:
„Das Hauptproblem, das immer wieder die Netzfrequenz belastet, liegt in den erneuerbaren Energien, die durch die politisch gewollte Energie einen steigenden Anteil am Netz einnehmen.“
Na gut, bei gründlichem Lesen des dritten Satzes im Teaser
„Der Vizepräsident des Europäischen Instituts für Klima und Energie Michael Limburg erklärt die Stromengpässe.“
hätte ich das das EIKE5 von vornherein erkannt, mich aber um die Analyse des Artikels gebracht, der ja schon in der Überschrift mit „Flatterenergie“ Instabilität suggeriert und Unsicherheit vermittelt.6
So weit, so klar. Doch warum spielte das offenbar vorhandene Problem in den deutschen (Leit-)Medien keine Rolle?
Der Beinahe-Blackout in den deutschen Medien
Vom 8.1. bis 19.1. wäre es auch den deutschen Medien möglich gewesen, über den Beinahe-Blackout zu berichten. Hatte ich doch etwas übersehen? Eine Internetrecherche der letzten Wochen brachte – bis auf „alternative Medien“ – KEIN Ergebnis, ebenso die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. Der komplette Themen-Überblick der heute-Sendungen vom 8.1.21 bis 19.1.217 zeigt das beispielhaft.
Zu Stromausfällen gab es lediglich im ZDF am 10.1.2021 um 10:16 einen Bericht „Stromausfall in Pakistan“8 und im RBB einen Beitrag am 19.1.2021 mit dem Titel „Energiewende im Winterstress“ und der Textbeschreibung
„Der wolkenverdeckte Himmel verhindert Photovoltaik, kaum Luftbewegung lässt Windräder stehen – es herrscht weitgehend Winterruhe. Der Strom kommt gerade vor allem aus Kohle, auch die Lausitzer Kraftwerke laufen an der Auslastungsgrenze. Doch wie soll die Energieversorgung künftig sichergestellt werden, wenn der Kohlestrom ein Auslaufmodell ist?“9
Der Tenor ist der gleiche, wie der im RT-Artikel: Die Erneuerbaren sind das Problem!
Ein Wunder! Der RBB macht sich gemein mit RT DE. Der RBB-Beitrag ignoriert die jahrelange Bremsung der Energiewende insbesondere durch das CDU-geführte Wirtschaftsministerium und den verschlampten Speicherausbau zugunsten eines vermeintlich billigeren Netzausbaus im europäischen Rahmen. Dieser sollte angeblich durch internationalen Stromausgleich dafür sorgen, dass immer und überall genug Elektroenergie zur Verfügung steht. Jetzt zeigt sich, dass gerade diese Hochspannungs-Vernetzung die Versorgungssicherheit gefährdet, während dezentrale, vermaschte Netze mehr Stabilität bringen könnten.10
Hier sehe ich einen Grund für das Ignorieren (oder bewusste Verschweigen?) des Beinahe-Blackouts durch Medien, denen es genügt, Regierungspositionen wiederzugeben statt sie als „4. Gewalt“ zu hinterfragen: Kritische Journalisten müssten sich mit der verfehlten Wirtschafts- und Energiepolitik anlegen und letztendlich ihre eigene Position in diesem System überprüfen.
Mit warmen Worten wird immer wieder die Notwendigkeit des Speicherausbaus betont, ohne die die Energiewende nicht zügig vollzogen werden kann. Die Ökologische Plattform fordert seit Jahrzehnten einen stärkeren Speicherausbau.11 Doch die Praxis zeigt das Gegenteil.
Das Ergebnis ist: Versorgungsengpässe und vor allem weitere Beschleunigung der Erderhitzung.
Wolfgang Borchardt
21.1.2021
https://de.rt.com/europa/112001-europas-stromnetze-um-haaresbreite-zusammengebrochen/ ↩
https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20210108_OTS0093/stoerung-im-europaeischen-stromnetz ↩
„Redispatch ist eine Anforderung zur Anpassung der Wirkleistungseinspeisung von Kraftwerken durch den Übertragungsnetzbetreiber, mit dem Ziel, auftretende Engpässe zu vermeiden oder zu beseitigen.„; Quelle: https://www.netztransparenz.de/EnWG/Redispatch, Dowload der Daten v. 7.1.21-10.1.21: Redispatch_7-1_10-1 ↩
siehe auch „CO2-Preis-(Des)Information“, https://www.oekologische-plattform.de/2019/09/co2-preis-desinformation/ ↩
Europäisches Institut für Klima und Energie – siehe https://www.oekologische-plattform.de/tag/eike/ ↩
siehe „Politische Begriffe und ihre Anwendung in der Ökologie“, https://www.oekologische-plattform.de/2017/03/beitraege-zur-umweltpolitik-heft-26/ ↩
Download: heute_8-1-21_19-1-21.pdf ↩
Pakistan ist genügend weit weg, das kann uns nicht passieren! ↩
Download: https://rbbmediapmdp-a.akamaihd.net/content/22/3f/223ffade-aa4a-43fe-bee1-7cf13b3dc103/223ffade-aa4a-43fe-bee1-7cf13b3dc103_hd-1024k.mp4 – 19MB ↩
siehe „Netzstabilität – zentrale Stromtrassen oder dezentrale, vermaschte Netze?“, https://www.oekologische-plattform.de/2012/09/netzstabilitat-zentrale-stromtrassen-oder-dezentrale-vermaschte-netze/ ↩
siehe „Vollversorgung mit Erneuerbarer Energie nur mit ausreichender Speicherkapazität möglich“ https://www.oekologische-plattform.de/wp-content/uploads/2021/03/39-Energiespeicher_20.pdf ↩