TITANIC. CO2-neutral

Kollisionskurs

Die derzeitige fossil-mobile Wachstumsgesellschaft befindet sich unverändert auf Kollisionskurs mit dem Planeten – auf Kosten der kommenden Generationen.

Das hat das bahnbrechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 immerhin klar gestellt. Das Gericht entschied, dass das Klimaschutzgesetz nicht ausreicht, um die kommenden Generationen vor einer globalen Erderwärmung von 2 Grad und mehr zu schützen. Die Lasten des dringend notwendigen Klimaschutzes werden derzeit in die Zukunft verschoben, auf die nächsten Generationen, die ohnehin von der kommenden Klimakatastrophe in voller Härte getroffen werden. Das ist ungerecht und muss geändert werden.

Doch das Gericht stellte nicht das Ungenügen der bisherigen Klimaziele fest, obwohl dies ja gerade vom Sachverständigenrat für Umweltfragen bemängelt wurde, sondern moniert nur ihre Unkonkretheit. Der Sachverständigenrat stellte fest, dass das verbleibende CO2-Budget sehr bald aufgebraucht sein wird (etwa 2028) und eine klimaneutrale Wirtschaft und Gesellschaft deshalb sehr viel eher, als in den bisherigen klimapolitischen Planungen vorgesehen, erreicht werden muss. Und darum geht es eigentlich: die bisherigen Klimaziele sind völlig unzureichend,- dass sie auch noch unkonkret und schwammig sind, ist dabei nur eine Marginalie. Auch eine Konkretisierung des Klimagesetzes und eine „Verschärfung“ des Ziels der Klimaneutralität von 2050 auf 2045 ändert daran nichts.

Die bisherige Klimapolitik bedeutet noch ein Vierteljahrhundert mit weiteren Treibhausgasemissionen, obwohl die Welt doch bereits jetzt in Flammen steht, wie die weltweiten verheerenden Waldbrände der letzten Jahre zeigten. Trotzdem stellte und stellt sich die etablierte Politik hin und sagt:

„Bis 2030 werden wir 55 oder gar 70% weniger Öl und Benzin ins Feuer der Erderhitzung schütten und in 30 oder 25 Jahren hören wir dann ganz damit auf.“

Das ist doch absurd! Man schüttet nicht weiter Öl und Benzin in ein Feuer, dass man löschen will! Das machen nur Verrückte und Geldjunkies.
Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen zu sagen:

„Wir machen jetzt mal einen allmählich strenger werdenden Lockdown: in 10 Jahren sollten etwa 50 – 70 % der Bevölkerung Maske tragen und 2050 sollten es dann vielleicht 100 % sein.“

Bei der Klimakatastrophe allerdings wird mit den Zielen von in 10, 25 oder 30 Jahren jongliert, als würde die Klimakatastrophe solange mal eben weiter nur auf Sparflamme köcheln. Nein, das wird sie nicht tun, sondern völlig außer Kontrolle geraten. wir müssen jetzt sofort handeln und das Feuer der Klimakatastrophe löschen, sonst ist es zu spät! Doch die Verantwortlichen haben den Ernst der Lage offenbar immer noch nicht begriffen. Die weltweiten Megabrände haben z.B. 2019 weltweit etwa 7,8 Milliarden Tonnen zusätzliches Kohlendioxid freigesetzt (siehe dazu der neue Bericht des WWF, „Planet in Flammen“ 2020 – https://www.wwf.de/2020/juli/planet-in-flammen/), das entspricht einem Fünftel der jährlichen menschlichen Emissionen, was alle Einsparbemühungen konterkariert. Eine Tatsache, die bisher einfach ignoriert wird.

Bild der Erde mit Flammenkranz vor schwarzem Hintergrund
„Brennende Erde“ von Avtar Kamanis, pixabay (CC0 1.0)

Es ist längst nicht mehr fünf vor zwölf

Es ist möglicherweise schon dreiviertel Vier, wie eine neue Klimastudie verdeutlicht.
Der australische Think-Tank Breakthrough gab bereits im Februar eine Studie heraus1, die belegt, dass selbst das 2°C-Limit nur mit sehr viel drastischeren Maßnahmen eingehalten werden kann, als derzeit von den Regierungen beabsichtigt sind.2 Denn bereits die derzeitige weltweite Konzentration von Treibhausgasen reicht für eine Erderwärmung um 2 Grad oder mehr aus. Um das 2 Grad-Ziel noch zu erreichen, müssten die weltweiten Emissionen schon bis 2030 auf Null reduziert werden. Alle späteren Ziele beinhalten nicht tragbare Risiken für die Menschheit und alle zukünftigen Generationen.

  • Das Kohlenstoffbudget des Weltklimarats (IPCC) unterschätzt die aktuelle und zukünftige Erderwärmung, lässt wichtige Rückkopplungsmechanismen (Kipppunkte) des Klimasystems unberücksichtigt und trifft leichtfertige Annahmen in Bezug auf das Risikomanagement, z.B. betreffs CO2-Rückholung.
  • Für die Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels gibt es kein Kohlenstoffbudget mehr, d.h. es wären sofort global Null Emissionen und CO2-Rückholung notwendig.
  • Die derzeitige Konzentration an Treibhausgasen verursacht schon eine Erwärmung von 2 Grad und mehr.
  • 2 Grad Erderwärmung können aber schon das sogenannte „Treibhaus Erde“-Szenario auslösen.

Diese Erkenntnisse stellen die aktuellen Klimapläne der Bundesregierung grundlegend in Frage. Doch die amtierenden Politiker*innen debattieren lediglich die Ergänzung von unzulänglichen Zwischen-Zielen nach 2030, anstatt sich mit der grundsätzlichen Paris-Kompatibilität ihrer Klimapolitik auseinanderzusetzen. Emissionsreduktionen um 55% bis 2030 und „Treibhausgasneutralität bis 2050 als langfristiges Ziel“ sind nun nicht mehr verfassungskonform und grob fahrlässig, denn damit würde das in Paris vereinbarte Ziel von deutlich unter 2 Grad Erderwärmung weit verfehlt, meint Hans-Josef Fell.3

Die Imperative der Klimakatastrophe

Die Klimakatastrophe und die Gefahr der Vernichtung des Lebens auf der Erde geben vor, was noch möglich und was nötig ist. Es geht um Sein oder Nichtsein im Reich der ehernen Notwendigkeiten, die uns die Gesetze der Physik, speziell der Thermodynamik vorschreiben. Die weitere Missachtung der unabweisbaren Imperative der Klimakatastrophe, wäre tatsächlich der Weg in die „Selbstverbrennung“ (Schellnhuber).
Die Eindämmung der Klimakatastrophe erfordert dringend sehr viel entschiedenere Schritte und muss zum vorrangigen Ziel gesellschaftlichen Handelns werden. Die deutschen CO2-Emissionen liegen jedoch bspw. bei weit über 800 Mill.t, der deutsche Wald kann allerdings nur 80 Mill. t absorbieren. Bei Einbeziehung seiner schmutzigen Zulieferer und der globalen Aktivitäten seiner Konzerne, verursacht Deutschland jährlich ca. das 20 fache dessen, was seine eigenen CO2-Senken aufnehmen können. Das ist ökologischer Imperialismus, der auch die Zukunft verbraucht.
Laut Umweltbundesamt verursacht eine Tonne CO2 inzwischen Schäden in Höhe von 195 € und müsste also eigentlich auch so viel kosten – kostet aber faktisch nach wie vor fast nichts. Bei Einbeziehung der Folgekosten durch die drohende Klimakatastrophe, müsste eine Tonne CO2 inzwischen sogar bereits 680 Euro kosten, also etwa das 20 fache des aktuellen Preises4.
Wenn man die Umweltschadenskosten in allen Bereichen konsequent berücksichtigen würde, dann würde sich das derzeitige fossil-mobil-globalisierte Geschäftsmodell schon längst nicht mehr rechnen.
Die Affirmation des Bestehenden ist inzwischen längst die Affirmation der Katastrophe.

Ernst gemeinter Klimaschutz muss nicht nur zu einer Dekarbonisierung, sondern zwangsläufig auch zu einer Deglobalisierung und Reregionalisierung führen und erfordert eine erhebliche Verringerung des Energie- und Stoffdurchsatzes der Produktion. Wer meint, das Klima schützen und gleichzeitig Gewinner des global- fossilen Monopoly bleiben zu können, der lügt sich und anderen in die Tasche. Die Menschheit muss sich entscheiden, ob sie das Klima- und Erdsystem im noch lebensfreundlichen Bereich stabilisieren will, oder ob sie das derzeitige Wirtschafts-Energie- und Mobilitätssystem beibehalten will – beides gleichzeitig geht offenbar nicht. Nur eine sofortige drastische Eindämmung der Treibhausgasemissionen und eine Stabilisierung der Biosphäre kann eine lebensgefährliche Klimakatastrophe und die vor unseren Augen stattfindende Zerstörung der Lebensgrundlagen noch begrenzen, wozu es eine, weit über technische Neuerungen hinausgehende grundlegende sozial-ökologische Wende braucht.
Was bedeutet es aber real, wenn wir Null Emissionen bis 2030 oder 2035 erreichen müssen? Dabei geht es ja um einen grundlegenden Um- und Rückbau der Wirtschaft und Gesellschaft gigantischen Ausmaßes, der in kürzester Zeit realisiert werden muss. Zudem ist ein gewaltiges Rettungs- und Stabilisierungsprogramm für das Klima und die Biosphäre notwendig.

Konturen einer sozialökologischen Transformation

Einige Stichpunkte:

  • Grundlegender Umbau des Steuersystems, Ökologische Steuerreform (Belastung des Energie-und Rohstoffverbrauchs, Entlastung lebendiger Arbeit ,regenerativer Energien, des öffentlichen Verkehrs), Preisreform: Verteuerung von Energie und Rohstoffen, ein progressiv schnell steigender CO2-Preis mit mindestens 60 €/Tonne als Startpreis, Abschaffung des Bruttosozialprodukts zugunsten eines Ökosozialprodukts, Bilanzierung und Besteuerung der Unternehmen nicht nur nach ökonomischen Kennzahlen, sondern ebenso nach ökologischen, sozialen Kennzahlen…
  • Der grundlegende Umbau der Finanzordnung: Geld nicht mehr als Bereicherungsmittel, sondern reines Tauschmittel; Abschaffung des Kapitalzins, der leistungslosen Spekulations- und Aktiengewinne; Bankensystem als reine Dienstleistung in öffentlicher Hand, in dem keine Gewinne erzielt werden…
  • Die Richtigstellung der Eigentumsordnung, in der selbst erarbeitetes und selbstgenutztes Eigentum geschützt wird, in der aber Eigentum nicht zur leistungslosen Abschöpfung fremder Leistung genutzt werden kann, z.B. durch Wuchermieten. In einer gemeinwohlorientierten Eigentumsordnung müsste Grund und Boden und die Dienste der Öffentlichen Hand in Gemeineigentum übergehen bzw. bleiben…
  • Die weitere Forcierung der material- und energieintensiven und Arbeitsplätze weg rationalisierenden Digitalisierung ist ein ebensolcher Irrweg, wie die Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs
    und eine energieverschwendende Wasserstoffwirtschaft. Dafür haben wir keine Zeit mehr.
  • Es geht um eine konsequente Ökologisierung allen Wirtschaftens, um eine leistungsgerechte und solidarische Einkommensordnung, eine solidarische Arbeits- und Sozialkultur, eine Globalisierung nachhaltiger Wirtschaftsweisen und eine weitgehenden Regionalisierung der Wirtschaft.
  • Sofortprogramm-Nahziele: Sofortiger Kohleausstieg, Ausstieg aus dem motorisierten Individualverkehr, Kostenloser ÖPNV, 100 % Ökologische Landwirtschaft, massive Wiederaufforstung und Wiedervernässung von Mooren, Verbot von Einwegflaschen- und Verpackungen, Verbot von Werbung für Klima- und Gesundheitsschädigende Produkte (wie z.B. Autos), sofortige Abschaffung und Umlenkung aller bisherigen Subventionen für fossile Energien und motorisierten Individualverkehr, Einführung einer hohen Kerosinsteuer, die Zerschlagung unkontrollierbarer Konzern- und Kartellstrukturen usw.usf.5

Es gilt, die Debatte über eine wirkliche gesellschaftliche Alternative wiederzubeleben und eine breite Öffentlichkeit zu überzeugen, dass eine andere, bessere Welt und eine lebensdienliche Ökonomie, die nicht länger die Natur, den Süden und die Zukunft zerstört, nicht nur immer dringender nötig, sondern auch möglich ist und wie diese andere Welt und die Wege dahin aussehen könnten. Doch alle wohlmeinenden Vorschläge und Forderungen zur Rettung des Klimas bleiben wirkungslos, solange sie politisch naiv, die realen Machtverhältnisse ignorieren – die in Jahrzehnten gewachsene Vorherrschaft eines fossil-mobil-monetär-militärischen Machtkomplexes und die die ganze Gesellschaft (einschließlich Gewerkschaften, Parteien, Medien und Umweltverbänden) durchdringenden Strukturen eines korporativen Kapitalismus mit seinen Wachstumsinteressen. Wer meint, er könne die notwendige ökologische Revolution, ohne eine entsprechende politische Revolution und eine grundlegende Demokratisierung bewerkstelligen, ist wirklich naiv. Alle, auch die Umweltverbände, die Wissenschaft und die Klimabewegung, versuchen sich an dieser Machtfrage vorbei zu mogeln und reden „von der Politik, die nun endlich handeln müsse“, als hätten sie keinen Schimmer davon, dass die Politik seit Jahrzehnten handelt, aber im Interesse der Großkonzerne, des Großkapitals und des Wirtschaftswachstums.

Es geht um den Aufbau einer starken Gegenmacht, einer politischen Bewegung, die tatsächlichen Druck auf die etablierte Politik auszuüben kann. Die Klimabewegung muss sich öffnen und die ganze Breite der Gesellschaft erreichen und mobilisieren, ganz unabhängig vom Alter6. Statt weiter an die Klimaschutzunwilligen und wirtschafts-freundliche Parteien zu appellieren, wäre eine breite Bürgerbewegung und eine wirkliche Wahlalternative für entschlossenen Klimaschutz auf die Beine zu stellen, um die bisherige Alternativlosigkeit endlich zu beenden.

Jürgen Tallig 2021
tall.j@web.de
(Der Autor war 1989 Mitbegründer des Neuen Forum in Leipzig.)

https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com
https://www.oekom.de/person/juergen-tallig-4673


  1. siehe https://52a87f3e-7945-4bb1-abbf-9aa66cd4e93e.filesusr.com/ugd/148cb0_999447b69dde477a83b500dde076fbc6.pdf 

  2. Kurzfassung auf deutsch: https://hans-josef-fell.de/wp-content/uploads/Breakthrough-AUS-Kurznotiz-Kohlenstoff-Budgets.pdf 

  3. siehe https://hans-josef-fell.de/was-getan-werden-muss-um-klimaschutz-verfassungskonform-zu-machen/ 

  4. siehe Pressemitteilung des UBA Nr. 63/2020 vom 21.12.2020 – https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/konsequenter-umweltschutz-spart-der-gesellschaft 

  5. Initiativgruppe Postkapitalistische Ökonomie, Unveröffentlichter Entwurf, 2020 – siehe auch https://www.akademie-solidarische-oekonomie.de/wp-content/uploads/2020/11/Profil-Postkapitalistische-Oekonomie.pdf 

  6. siehe Jürgen Tallig, Aufbruch 21- Eine Alternative für das Leben, Rabe Ralf Februar/März 2021, S.15 oder https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com/ 

1 Gedanke zu „TITANIC. CO<sub>2</sub>-neutral“

  1. „Die Klimabewegung muss sich öffnen und die ganze Breite der Gesellschaft erreichen und mobilisieren.“

    Das stimmt natürlich, doch mir scheint, „die Klimabewegung“ ist inzwischen schon weiter. Die angesprochene Öffnung ist aber auch nur ein Teil der wirklichen Erfordernisse.

    Für die „notwendige ökologische Revolution“ und die „entsprechende politische Revolution und eine grundlegende Demokratisierung“ müssen alle Kräfte zusammenwirken, die unter dem „korporativen Kapitalismus“ leiden.
    Dazu gehört neben dem Schulterschluss mit der Friedensbewegung (siehe z.B. https://www.oekologische-plattform.de/?s=atomkrieg und https://www.oekologische-plattform.de/2019/09/zusammenarbeit-von-friedens-und-umweltbewegung/) auch die Verbindung mit den Bewegungen für soziale Gerechtigkeit – anders wird keine „politische Bewegung, die tatsächlichen Druck auf die etablierte Politik auszuüben kann“ zustande kommen.

    Es nützt überhaupt nichts, so zu tun, als würden „die Klimabewegung“ oder „die Friedensbewegung“ oder „die Gewerkschaft(en)“ oder „der Klassenkampf“ oder irgendeine Losung oder oder … das Entscheidende sein. Solange es uns nicht gelingt, dieses engstirnige Denken zu überwinden, wird es keine breite gesellschaftliche Bewegung geben. Und nicht zu vergessen: Die Gemeinsamkeiten entdecken wir im gemeinsamen Handeln.

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