Kandidat*innencheck:
Janine Wissler

Foto von Janine Wissler1.Was ist die größte Aufgabe der LINKEN im 21. Jahrhundert?

Die sozialen Krisen, die Klimakrise, wachsende Kriegsgefahren und imperiale Konkurrenz bilden einen Zusammenhang und diese kapitalistischen Krisenphänomene verstärken die Gefahr autoritärer Umbrüche. Als sozialistische Partei stehen wir vor der Herausforderung, gesellschaftliche Mehrheiten von einem radikalen und gerechten Wandel, einem sozial-ökologischen Systemwechsel zu überzeugen und dafür gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verändern. Das ist eine Mammutaufgabe. Als LINKE stehen wir vor der Herausforderung, Soziales und Klimaschutz glaubwürdig zu verbinden, damit wir Wege aufzeigen, wie wir das Klima konsequent schützen, soziale Garantien durchsetzen und die Kosten gerecht verteilen. Es braucht eine kraftvolle, gesellschaftlich verankerte LINKE, um solche Alternativen durchsetzen zu können.

2.Was bedeutet Umweltgerechtigkeit für Dich?

Umweltgerechtigkeit heißt, die Ausbeutung von Menschen und Natur ebenso zu überwinden wie die Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden. Statt Profitinteressen muss das gemeinsame (Über)Leben und globale, solidarische Kooperation im Mittelpunkt stehen. Das ist nur möglich, wenn wir die Eigentumsverhältnisse, die Organisation von Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft verändern. Umweltgerechtigkeit ist immer auch eine Frage von globaler Gerechtigkeit und eine Klassenfrage. An den am stärksten befahrenen Straßen wohnen vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen, sie sind Feinstaub und anderen Umweltgiften und den daraus resultierenden Gesundheitsrisiken besonders ausgesetzt. Die Folgen des Klimawandels spüren wir schon jetzt durch Dürren, Ernteausfälle, extreme Wetterereignisse und Überschwemmungen. Ich war vor einigen Monaten im Ahrtal und habe mit Menschen gesprochen, die Verwandte und Nachbar*innen in den Fluten verloren haben. Viele stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Der Klimawandel wird zu enormen sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen führen, deshalb brauchen wir Maßnahmen zur Anpassung an die Folgen der Klimaerwärmung und die Begrenzung auf unter 2 Grad.

3.Was bedeutet Generationengerechtigkeit für Dich?

Ein linkes Verständnis von Generationengerechtigkeit unterscheidet sich fundamental vom neoliberalen Verständnis, das Generationengerechtigkeit als Begründung für die Schwarze Null und die Schuldenbremse missbraucht. Denn dadurch wird das Versprechen auf Generationengerechtigkeit systematisch gebrochen: Wenn Bildung unter die Räder kommt und Schulen marode sind. Wenn Kinder in Armut aufwachsen. Wenn die öffentliche Infrastruktur verfällt und viele junge Menschen den Lebensstandard ihrer Eltern nicht mehr erreichen. Wenn Klimaschutz blockiert wird und nachfolgende Generationen mit den Folgen des Klimawandels leben müssen. Generationengerechtigkeit heißt für mich, für Nachhaltigkeit und soziale Absicherung in jeder Lebensphase einzustehen, für Bildungsgerechtigkeit und Menschenwürde in der Pflege, für Umverteilung von Reichtum von oben nach unten und für Klimagerechtigkeit. Ich verstehe unsere Partei als eine sozialistische Gerechtigkeitspartei.

4.Nur 2% der Wähler*innen trauen uns Klimaschutz zu, wie möchtest Du unsere Kompetenzwerte steigern?

Wir haben gute Vorschläge und Konzepte, da ist in den letzten Jahren einiges passiert. Viele Aktive der LINKEN kommen aus ökologischen Bewegungen und sind dort politisch sozialisiert worden: in der Anti-Atomkraft-Bewegung, gegen Kohlekraft und aus den Bewegungen gegen den Ausbau von Flughäfen und Autobahnen. Aber diese Themen werden zu wenig mit uns verbunden. Das zu ändern und Klimaschutz offensiv mit sozialer Gerechtigkeit, Demokratisierung und der Veränderung von Eigentumsverhältnissen zu verbinden, halte ich für eine zentrale Aufgabe.

Dafür brauchen wir ein klares Profil und eine Schwerpunktsetzung. Im Leitantrag für den Bundesparteitag schlagen wir ein sozial gerechtes Klima- und Mobilitätsgeld vor, den Ausbau von Bus und Bahn zu bezahlbaren und funktionierenden Alternativen, ein Klimajobprogramm und den schnelleren Kohleausstieg. Zugleich sollten wir uns z.B. bei Themen wie Landwirtschaft und Ernährung, klimaneutrale Kommunen, demokratische Konversion in der Industrie auch konzeptionell weiterentwickeln.

5.Wenn Du ein Gesetz schreiben und implementieren könntest, was wäre das?

Da würden mir viele Gesetze einfallen. Die Einführung einer „Übergewinnsteuer“ für Krisenprofiteure etwa, wie wir sie im Bundestag eingebracht haben. Statt des Gesetzes für die 100-Milliarden-Aufrüstung bräuchte es ein Sondervermögen für sozial gerechten Klimaschutz. Angesichts steigender Preise und Mieten würde ich Gesetze für einen bundesweiten Mietendeckel und für zuverlässige und bezahlbare Mobilität und eine „Bürger*innenbahn“ einbringen. Und zu streichen hätte ich auch etwas: die Paragraphen 218 und 219a, weil jede Frau ein Recht auf körperliche Selbstbestimmung hat und das Thema Schwangerschaftsabbruch raus auf dem Strafgesetzbuch muss.

6.Was ist aus Deiner Sicht ursächlich dafür, dass uns nur 4,9% gewählt haben, obwohl unser Potenzial bei angeblich 18% liegt?

Wir senden nach außen in wichtigen gesellschaftlichen Fragen widersprüchliche Antworten. Es muss klar sein, wofür die LINKE steht. Und das geht nur, wenn wir klare Botschaften gemeinsam nach außen vertreten. Über die Hälfte der Bevölkerung muss sich wegen der steigenden Preise und zu niedrigen Löhne einschränken. Viele von ihnen fühlen sich zurecht von der Politik der letzten Jahrzehnte vergessen und verraten. Diese Menschen sollten wir ins Zentrum unserer Politik stellen. Mit klaren Vorschlägen: Entlastung für die untere Hälfte, ein Mietendeckel und eine Kindergrundsicherung, mehr Geld für Kitas und Schulen. Wir müssen in ärmeren Stadtteilen präsent sein, nicht nur vor Wahlen. Eine LINKE, die die Träume von einem besseren Leben, die oft unter Alltagsstress und Resignation verborgen sind, wieder anspricht. Milieus dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Ich bin überzeugt: als Gerechtigkeitspartei, die ebenso glaubwürdig für armutsfeste Renten und Bildungsgerechtigkeit für Kinder aus Arbeiter*innenfamilien einsteht wie für Klimaschutz, die sich für bezahlbare Mieten und gegen Rassismus engagiert, werden wir wieder stärker.

7.Wie sieht eine Gesellschaft, Deiner Meinung nach, aus, die sich am Pariser Abkommen orientiert?

Um die Pariser Klimaziele noch zu erreichen, braucht es das größte Investitionsprogramm aller Zeiten, für eine klimaneutrale Wirtschaft und Infrastruktur. Wir brauchen langlebige Produkte und stärker regionale Wirtschaftskreisläufe. Ein weitreichender Umbau von Industrie, Dienstleistungen und Landwirtschaft, also großer Teile der Arbeitswelt. Das geht nur sozial gerecht, wenn der Einfluss der Beschäftigten gestärkt und Wirtschaft demokratischer organisiert wird.

Heute werden die Menschen im Namen des Klimaschutzes zum Verzicht aufgefordert, darunter die Menschen, die sich ohnehin kaum etwas leisten können. Bei einer klimagerechten Gesellschaft geht es um ein gutes Leben für alle. Um wohnortnahes Arbeiten statt Pendlerströme, in denen Menschen viel Zeit und Nerven verlieren, um lebenswerte Städte, die nicht von Staus und Abgasen geplagt sind, um ländliche Regionen mit einer guten Infrastruktur und Nahversorgung.

Um eine Gesellschaft, die Arbeit, Ressourcen und Reichtum gerechter verteilt. Die 4-Tage Woche wäre eine Perspektive für eine menschlichere und klimagerechte Arbeitswelt. Wohnen, Gesundheitsversorgung, Mobilität und Kultur könnten als Teil einer Gemeinwohlwirtschaft für alle zugänglich und demokratisch organisiert werden. Dafür müssen wir nicht nur Konsumgewohnheiten, sondern vor allem die Verteilungs- und Eigentumsverhältnisse verändern und die Konzerne entmachten.

7. Was denkst Du vom Satz „Nicht grüner als die Grünen werden“?

Der Satz führt in die Irre. Zum einen unterstellt er, dass die Grünen konsequent „grün“ seien, was sie nicht sind. Allein aus Hessen, wo die Grünen seit acht Jahren mit der CDU regieren, kann ich dafür viele Beispiele nennen: Ob Flughafenausbau, die Rodung des Dannenröder Waldes für den Weiterbau der A49 oder die Versalzung der Werra – in all diesen Fragen waren die Grünen nicht bereit, sich mit Wirtschaftsinteressen anzulegen, um Natur und Klima zu schützen.

Wir sollten stattdessen lieber deutlich machen, was linke Klimapolitik von grüner unterscheidet und warum unsere Ansätze konsequenter sind als die der Grünen. Die Grünen gehen letztlich davon aus, dass der klimaneutrale Umbau mit marktwirtschaftlichen Anreizen und einigen staatlichen Eingriffen wie eine sozial abgefederte CO2-Bepreisung erreicht werden kann. Aber ein grün modernisierter Kapitalismus ist eine Sackgasse. Das führt nicht zu Klimaneutralität und wird die soziale Ungleichheit verstärken. (Dass der Kapitalismus auf der Ausbeutung von Mensch /und/ Natur beruht, schrieben übrigens schon Karl Marx und vor allem Friedrich Engels, das ist also keine ganz neue Fragen für die sozialistische Bewegung.) Als LINKE setzen wir auf staatliche Investitionen, um die Wirtschaft und Infrastruktur klimaneutral umzubauen und am Gemeinwohl statt am Profit auszurichten. Wir wollen Energieversorgung und den öffentlichen Personenverkehr in der öffentlichen Hand organisieren und Rekommunalisierungen durchsetzen.

Der Satz führt auch in die Irre, wenn damit gemeint ist, dass Klimaschutz für uns ein nachrangiges Thema ist. Eine deutliche Mehrheit will, dass wir die Partei für gute Arbeit und sozial gerechten Klimaschutz werden. Das hat ja auch die Studie im Auftrag der Rosa Luxemburg Stiftung noch einmal deutlich gezeigt. Klimaschutz ist kein Thema nur für urbane Mittelschichten und Besserverdienende, sondern eine Klassenfrage. Am stärksten werden sozial-ökologische Alternativen wie ein Klimajobprogramm oder der Ausbau von Bus und Bahn von Menschen mit einem Haushaltseinkommen bis 1500€/Monat befürwortet. Viele von ihnen wählen derzeit lieber grün oder gar nicht. Das sollten wir ändern. Konsequenter Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sind kein Gegensatz, beides gehört zusammen.

8.Wie möchtest Du junge Menschen für die Partei begeistern?

Wir müssen ihre Anliegen ernstnehmen und DIE LINKE muss ausstrahlen, dass wir die Partei sind, die sich mit und für sie engagiert. Wir sollten die Themen Bildungsgerechtigkeit, „Generation Praktikum“ und die Situation der Auszubildenden stärker nach vorne stellen und dies auf eine Art und Weise tun, die junge Menschen auch erreicht.

Mit Fridays for Future ist die zahlenmäßig vermutlich größte weltweite Jugendbewegung aller Zeiten entstanden. DIE LINKE muss für die Aktiven eine verlässliche Partnerin sein (was nicht heißt, dass wir jede einzelne Forderung teilen müssen), sowie auch für andere soziale Bewegungen, sei es für bezahlbare Mieten, die Seebrücke, gegen rechts und gegen alle Formen von Diskriminierung. Hier engagieren sich besonders viele junge Menschen.

Wir brauchen eine Kultur in der Partei, die (junge) Menschen, die etwas bewegen wollen, nicht abschreckt. Kontroverse Diskussionen sind wichtig, aber ebenso wichtig ist die Erfahrung von Solidarität miteinander. Eine respektvolle Diskussionskultur, die dazu beiträgt, dass junge Frauen sich ermutigt fühlen, sich aktiv einzubringen. Eine Partei, die zum Mitmachen einlädt und auch Spaß macht. Wir brauchen mehr Raum für gemeinsame Aktion. Offene Aktiventreffen und kulturelle Angebote gibt es schon in vielen Kreisverbänden. Von den guten Beispielen sollten wir lernen.

9. Wie stärken wir die politische Bildung für alle Ebenen der Partei?

Politische Bildung hat für eine sozialistische Partei eine große Bedeutung, nur so können wir linke Alternativen gegen die herrschenden Diskurse stärken. Das ist immer auch eine Frage von Ressourcen – zeitlich und personell -, da haben wir während der Pandemie gelernt, kreativer und digitaler zu werden. Gerade die Bildungsangebote für Neumitglieder werden gut angenommen. Dabei geht es um Inhalte unserer Programmatik und um Parteiorganisation, aber ebenso wichtig ist es, marxistische Theorien zu vermitteln. Wir sollten das Engagement der Mitglieder für die politische Bildung stärken z.B. durch mehr Multiplikator*innen in Landes- und Kreisverbänden. Wenn wir z.B. über eine programmatische Weiterentwicklung beim Thema sozial-ökologische Transformation sprechen, sollten wir diese dann auch mit Bildungsformaten begleiten.

10.   Bei der Nominierung von Klaus Ernst für den Ausschussvorsitz gab es viel Ärger von Seiten der Basis. Wie können Basismitglieder oder auch die Expertise aus Bundesarbeitsgruppen in Zukunft Gehör finden?

Ausschussvorsitzende werden von der Bundestagsfraktion gewählt, aber ich finde, dass sich Partei und Bundestagsfraktion insbesondere bei strittigen Fragen eng abstimmen sollten. In den Bundesarbeitsgruppen wird gute inhaltliche Arbeit gemacht, vieles davon findet Eingang in die Programmatik der Partei, die die Grundlage für alle ist, die an herausgehobener Stelle für DIE LINKE agieren.

11.   Wie schaffen wir es Inhalte über persönliche Befindlichkeiten und „Promi“ansprüche zu stellen?

Weniger Ich-AGs und mehr Team. Ich erwarte von Abgeordneten und Vorstandsmitgliedern, dass sie nach außen Positionen vertreten, die auf der Grundlage unseres Programms und von Parteitagsbeschlüssen stehen. Minderheitspositionen und abweichende Meinungen sind in einer pluralen Partei natürlich vollkommen legitim, aber demokratische Meinungsbildungsprozesse und Beschlüsse müssen ernst genommen werden und dürfen nicht durch widersprüchliche öffentliche Äußerungen entwertet werden. Niemand von uns würde einem Parlament angehören, wenn es unsere Partei nicht gäbe mit ihren 60.000 Mitgliedern. Denen sollten sich alle verpflichtet fühlen, die öffentlich für DIE LINKE sprechen.