Vom Unwetter zur Katastrophe

Die Eisschmelze hat global dramatisch zugenommen.

Die veränderte atmosphärische Zirkulation der Nördlichen Hemisphäre könnte sie weiter beschleunigen, der finale Temperaturausgleich zwischen Arktis und Subtropen scheint in vollem Gange.Im weiteren Verlauf der Erderwärmung ist mit mehreren Temperatursprüngen zu rechnen, mit katastrophalen Auswirkungen.

Im 5.Sachstandsbericht veröffentlichte der Weltklimarat (IPCC) erstmals Zahlen über die weltweite Eisschmelze und deren Beschleunigung.
Es sind erschreckende Zahlen, vor allem wegen der exponentiellen Wachstumsraten, mit denen sich der Prozess beschleunigt. Eine Verdreifachung der abschmelzenden Eismasse in 10 Jahren, bedeutet eine Zunahme um 30% pro Jahr, alle drei Jahre eine Verdopplung.

Hier die Zahlen:

Die Gletscherschmelze hat sich von 1993-2009 von 140 auf 410 Gt/Jahr (Gigatonnen oder Milliarden t) fast verdreifacht.
Die Fläche des arktischen Meereises im Sommer schrumpft beschleunigt weiter, inzwischen (2012) jedes Jahrzehnt um 13.6% ( NASA- Experten gehen allerdings davon aus, daß die Arktis schon in fünf Jahren im Sommer eisfrei sein könnte).
Das grönländische Eis schmilzt gleichfalls stark beschleunigt. Zwischen 2001 und 2011 erhöhte sich die Schmelzrate von 74 auf 274 Gt/Jahr, das ist fast eine Vervierfachung in einem Jahrzehnt (8x der Bodensee, oder 1 Million Supertanker).
Auch der Antarktische Eisschild (Westantarktis) schmilzt immer schneller. Zwischen 2002 und 2011 erhöhte sich der Eisverlust von 72 auf 221 Gt/Jahr, also eine Verdreifachung (das entspricht ca. 10m weniger Dicke pro Jahr).
Erschreckende Zahlen,- allerdings werden sie an anderer Stelle schon viel früher genannt.
Eric Rignot, University of California, bezifferte schon 2006 die Verluste beider Eisschilde auf 475 Mrd. t.Es ist bekannt, dass der IPCC politischer Einflussnahme unterliegt und die veröffentlichten Einschätzungen ausgehandelte Kompromisse sind und eher konservativ und vorsichtig.
Es könnte auch noch schlimmer sein und vor allem kommen. Im Juli 2012 kam es über Grönland innerhalb von vier Tagen zu einer großflächigen Erwärmung, so dass fast die gesamte Oberfläche von Schmelzvorgängen betroffen war, eine Zunahme um 2/3, in so kurzer Zeit. Aber auch wenn die Beschleunigung der Schmelzprozesse „nur“ im selben Tempo weitergeht, kann man sich ausrechnen (exponentielles Wachstum von 30% pro Jahr), wann die Eisschilde abgeschmolzen sein werden, nämlich nicht erst in ein paar tausend Jahren sondern noch in diesem Jahrhundert.
Es könnte allerdings auch zu sprunghaften Beschleunigungen der Erwärmung der Arktis und des Abschmelzens des grönländischen Eisschildes kommen.

Mögliche Ursachen

  • Das Verschwinden des arktischen Meereises. Damit ist ja, durch die veränderte Albedo, eine Art zusätzlicher Heizung in Betrieb. Es werden nicht mehr 80-90% der Wärmeeinstrahlung durch Eis und Schnee reflektiert, sondern das Meerwasser nimmt 80-
  • 90 % der Wärme auf und speichert sie, wodurch wiederum das Zufrieren im Winter noch später und dünner erfolgt.

Doch es gibt noch weitere „Beschleuniger“:

  • Die plötzliche Stratosphärenerwärmung, die mit steigender CO2-Konzentration immer häufiger auftritt und einen Zusammenbruch des Polarwirbels zur Folge hat.
  • Und eine
    Grundlegend veränderte atmosphärische Zirkulation auf der Nordhalbkugel
    (Siehe „Vom Wetter zum Unwetter“ in Umwelt aktuell 07/2013).

Die Hauptaussagen des Textes hier noch einmal in Kürze:

  • Die bisher unser Wetter bestimmende Westwinddrift hat stark nachgelassen Arktische und Nordatlantische Oszillation haben sich stark abgeschwächt, Azorenhoch und Islandtief gibt es nicht mehr wie bisher.
  • Polarwirbel und Polarfrontjetstream sind instabil.
  • Das Wetter, das wir bisher kannten, dominiert von westlicher Strömung, gibt es nicht mehr.
  • Strömungen aus verschiedenen Richtungen prallen über Europa – aufeinander, Tiefdruckbahnen sind nach Süden verschoben.
  • Ursache dieser Veränderungen ist die starke Verringerung der Temperatur- und Druckunterschiede zwischen Arktis und Subtropen aufgrund der extrem starken Erwärmung der Polarregionen.

Die Analyse ist durch den Wetter-und Klimaverlauf des letzten Jahres grundsätzlich bestätigt worden, soll aber hier präzisiert und erweitert werden.

Man kann heute mit ziemlicher Sicherheit sagen: Die jahreszeittypischen Witterungsverläufe und Temperaturen werden durch die jeweilige atmosphärische Strömungsrichtung weitgehend verändert und entweder überlagert oder erheblich verstärkt und das in zunehmendem Maße. Vereinfacht gesagt: Entscheidend ist nicht mehr die Jahreszeit allein, sondern vor allem: woher kommen die Luftmassen, aus Süd oder Nord, sind sie warm oder kalt. Also im vorigen späten Extremwinter hatten wir eine Verstärkung (Nordströmung, Arktische Verstärkung) und im diesjährigen extrem milden Winter eine Überlagerung (Südwestströmung).

In Nordamerika wurden die neuen Abläufe in diesem Winter besonders deutlich: es gab mehrfach extreme Polarluftvorstöße an der Ostküste bis hinunter nach Florida und in den Golf von Mexiko und mehrfach extreme Temperatursprünge von bis zu 40° C in wenigen Tagen, wenn die Strömung wieder auf Süd drehte. Gleichzeitig gelangte mit einer Süd-Nord-Strömung extrem milde Luft entlang der Westküste bis nach Alaska und darüber hinaus.
Solche Strömungen, entlang der Längengrade (Meridiane) nennt man meridional.

Wenn sich die Zirkulationen zweier starker Druckgebiete (ums Hoch, im Uhrzeigersinn, ums Tief entgegen dem Uhrzeigersinn) ergänzen und verstärken kann dies eine enorme Sogwirkung ergeben. An der Ostküste gab es eine gigantische Kältepumpe aus Nordatlantiktief und Kanadahoch, an der Westküste eine Wärmepumpe zwischen Kanadahoch und Pazifiktief.

In „Vom Wetter zum Unwetter“ äußerte ich die Befürchtung, dass die Erwärmung der Arktis sich noch beschleunigen könne, wenn Polarwirbel und Westwinddrift die kalte Luft nur noch eingeschränkt zurückhalten.
Hinzufügen muss man jetzt wohl : „..und wenn subtropische Warmluft ungehindert in die Polarregionen vordringen kann.“, was jetzt immer häufiger passiert.

Der finale Temperaturausgleich zwischen Arktis und Subtropen ist in vollem Gange. Zunehmend bestimmen meridionale Strömungen (Nord-Süd, Süd-Nord) das Wettergeschehen.
Auch in Europa gab es dieses Nebeneinander von Wetter- und Temperaturextremen. So gab es einen Polarluftvorstoß bis nach Israel und in die Türkei und teilweise extreme Temperatursprünge, so in Finnland nach einem Warmluftvorstoß aus Südwesten binnen zweier Tage von -55° auf +5° Celsius.
Immer öfter tauchen Luftmassen da auf, wo sie eigentlich nicht hingehören, extreme meridionale Strömungen nehmen zu.

Es gibt den Ansatz, die Extreme mit einem stark geschwächten und deshalb extrem mäandernden Polarfrontjetstream zu erklären oder mit einem nach Süden verschobenen Polarwirbel (aber bis zum Golf von Mexiko?).
Es ist aber wohl so, dass der Polarwirbel immer öfter (Stratosphärenerwärmung) regelrecht zusammenbricht und mit ihm die gesamte atmosphärische Zirkulation der Nordhalbkugel. Die Luftmassengrenze zwischen Arktis und Subtropen ist instabil geworden und kollabiert immer öfter und es erfolgt nunmehr die direkte Vermischung der zwei Luftmassen.

Starke Druckgebiete dominieren jetzt das Wettergeschehen und die Strömungsverläufe, nicht mehr Westwinddrift und mäandernder Jetstream. Die Interaktion zwischen den Druckgebieten ist jetzt der Schlüssel zum Verständnis der Wetterabläufe,- wo sie stehen und wie sie zueinander stehen, entscheidet die Strömungsrichtungen , die sich jetzt extrem kurzfristig ändern, mit ständigen Luftmassenwechseln und Temperatursprüngen.
Die alten Strömungsverläufe und das alte Wetter gibt es nur noch in den Computermodellen der Meteorologen und Klimawissenschaftler.
Wenn Druckgebiete heute dort stehen, wo sie früher standen ( z.B. : Azorenhoch und Islandtief) so ist das vielleicht nur noch eine zufällige zeitweise Übereinstimmung.

Das bedeutet aber nicht nur chaotische Wetterverläufe mit häufigeren abrupten Wechseln und Temperatursprüngen, sowie Unwettern und noch schlimmeren Überschwemmungen (bei stehendem, kreisendem Wetter), sondern vor allem den beschleunigten ungehinderten Ausgleich von Temperaturunterschieden zwischen den Luftmassen und damit eine noch mal beschleunigte Erwärmung der Arktis und der gesamten Polarregion einschließlich Grönlands.
Der Klimawandel hat damit möglicherweise einen Punkt erreicht, ab dem sich Eisschmelze und Meeresspiegelanstieg noch einmal erheblich beschleunigen könnten.
Es müssen wohl nicht nur die Lehrbücher der Meteorologie neu geschrieben werden sondern auch die Klimamodelle bedürfen erheblicher Modifizierung (siehe Semenov). Angesichts der geschilderten dramatischen Entwicklungen stellt sich natürlich die Frage, was es mit der angeblich verlangsamten Erderwärmung auf sich hat.
Die Erderwärmung hat sich nicht verlangsamt, doch sie ist verzögert. Ozeane und Eis puffern den Temperaturanstieg der Atmosphäre.

In der Zusammenfassung des IPCC-Berichts durch BMU, UBA, BMBF und deutsche IPCC-Stelle, ist zu lesen, „der Anstieg der globalen Mitteltemperatur, habe sich in den vergangenen 15 Jahren verlangsamt, und die Gründe dafür seien noch nicht abschließend geklärt“.
Diese Interpretation des Berichts ist nicht korrekt.

Der 5.Bericht nennt eine Erhöhung der globalen Oberflächentemperatur gegenüber der vorindustriellen Zeit von 1,06°C für 2012, im 4. Sachstandsbericht sind noch 0,92°C für 2005 angegeben. Es gab also einen Anstieg von 0,14°C in sieben Jahren! Der 3.Bericht nennt für den Zeitraum bis 2000 noch einen durchschnittlichen Anstieg von 0,1°C pro Dekade.
Von einer Verlangsamung des Temperaturanstiegs kann also nicht die Rede sein.
Es gibt allerdings im 5.Bericht eine möglicherweise irreführende Trendberechnung für einen Zeitraum von 15 Jahren – die war von den Wissenschaftlern aber als Beispiel gedacht, wie sehr Einzelereignisse am Beginn oder Ende eines Zeitraums einen Trend verfälschen können. 1998 war das absolut wärmste Jahr der 90er, auf Grund eines extrem starken El-Nino- Ereignisses (starke Erwärmung des tropischen Pazifik) .

Wenn man nun als Ausgangspunkt zur Darstellung einer Tendenz dieses Jahr wählt, dann ist die Normalisierung danach eine Verlangsamung der Erwärmung und diese „Verlangsamung“ mit der Zunahme der Erwärmung in den letzten 10 Jahren gegengerechnet ergibt insgesamt eine Verlangsamung. Was von den Wissenschaftlern nur als warnendes Beispiel angeführt wurde, wie leicht Trends verfälscht werden können, wurde von interessierter Seite begierig aufgegriffen und als Hauptergebnis des Berichts verkündet.
Eine so irregeführte Öffentlichkeit wird sich weiter in fälschlicher Sicherheit wähnen und das Not-Wendige aufschieben.

Auch taucht der Begriff „Globale Mitteltemperatur“ im IPCC-Bericht gar nicht auf, dort wird von globaler Oberflächentemperatur der Atmosphäre (über Land und Ozeanen) gesprochen. Eine globale Mitteltemperatur müsste ja noch mehr Teile des Systems Erde berücksichtigen, also auch:

  • Die sich weiter beschleunigende Erwärmung der Ozeane bis in noch tiefere Schichten ( die ja bisher schon 90% der zusätzlichen Wärme aufgenommen haben).
  • Die Temperaturentwicklung der gesamten unteren Atmosphäre, sowie die der Stratosphäre
  • Die Erwärmung des Eises weltweit, die sich ja in dramatisch beschleunigten Schmelzprozessen zeigt

Würden Ozeane und Eis nicht so viel Wärme aufnehmen, hätten wir längst eine sehr viel höhere Atmosphärentemperatur. Jeder kann dies mit einem kleinen Experiment leicht nachvollziehen, indem er das Abtauen eines Eisfachs mittels regelmäßiger Wärmezufuhr (Schüsseln mit warmen Wasser) mit Thermometer und Uhr dokumentiert. Es zeigt sich, daß mehrere Stunden keine Erhöhung der Lufttemperatur im Fach stattfindet, die zugeführte Wärme wird vollständig vom Eis aufgenommen, ja es gibt sogar eine leichte Abkühlung auf Grund der entstehenden Verdunstungskälte (der Effekt der Verdunstungskälte dürfte auch global, angesichts der riesigen angetauten Flächen, den Erwärmungseffekt noch mildern). Im Eisfach beginnt erst nach einigen Stunden das große Tauen. Das Eis hat so viel Wärme aufgenommen, dass sich seine Konsistenz grundlegend verändert hat, es beginnt zu schmelzen. Und genau zu diesem Zeitpunkt gibt es eine kleine Überraschung, eine Temperaturerhöhung der Luft im Fach um 8°C, da das Eis keine weitere Wärme mehr aufnehmen kann.
Mit Temperatursprüngen ist auch global zu rechnen, wenn die Puffer aus Eis aufgebraucht sein werden, was hoffentlich nicht gleichzeitig der Fall sein wird. Doch selbst ein Temperatursprung von zwei Grad ist die totale Katastrophe für alle Ökosysteme.

Jürgen Tallig
Agentur für Neues Denken
Autor und Referent

Literatur

  • IPCC, 5. Sachstandsbericht, Teilbericht 1, 2013
  • Semenov, V. Arctic warming favours extremes, 2012
  • Schimanke, S., Plötzliche Stratosphärenerwärmung
  • Tallig, J., Vom Wetter zum Unwetter, 2013
  • Horton/ Rahmstorf e.a., Expert assessment of sea-level rise, 2013

siehe auch Tarantel 61, S. 20:
Jürgen Tallig „Vom Wetter zum „Un“Wetter
Der ‚Frühling‘ der Extreme 2013 zeigt überdeutlich, die atmosphärische Zirkulation ist nachhaltig verändert.“