Demminer Wut im Jahre 5

Über das (Mit)Regieren von Linken im Land – am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns

Klaus Höpcke

Die Philosophin Birgit Schwebs aus Bad Doberan berichtet, was alles los war – auf dem Weg in die Koalition zwischen SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern. Der Autorin ist eine zeitgeschichtliche Reportage gelungen. Ihr Text liest sich wie ein Polit-Thriller.
1994 kam das Gefühl auf, eine neue politische Situation sei im Land entstanden. Die PDS hatte 22,7 Prozent der Wählerstimmen erhalten. Die demokratischen Sozialisten erklärten sich bereit, eine von der SPD geführte Minderheitsregierung zu unterstützen. Erst vier Jahre später hatten die Nordost-Sozialdemokraten ein offenes Ohr für derartige Angebote. Sie waren der Gefangenschaft in den Koalitionsarmen der CDU überdrüssig geworden. Und sie hatten aus Schweriner PDS-Kreisen Töne vernommen, die deren bisheriges Oppositionsverständnis in Frage stellten. Dies sei Verweigerung gegenüber den politischen Verhältnissen; solche Verweigerung wolle man überwinden.
Mitregierungsverantwortung in einer Landeskoalition mit der SPD wahrzunehmen, wurde für einige maßgebende PDS-Politiker zu einem »Wert an sich« und begann, als Beleg für Politikfähigkeit zu gelten. Dann kam das Kneifen in Regierer-Konflikten. Es offenbarte Politikfähigkeits-Verlust. Zum Kosovo-Krieg wurde statt einer klaren Verurteilung eine »von Ecken und Kanten befreite Kompromisserklärung« verabschiedet. Das gegen die Senkung des Spitzensteuersatzes gerichtete Kontra, wie es in der PDS beschlossen war, verwandelte sich nach einem Kanzlerbesuch (mit dem nötigenden Beigeschmack einer mit Versprechungen gespickten Erpressung) in ein Pro, was dem Regierungschef des Landes ein »Ja« zur Steuerreform im Bundesrat erlaubte.
In einem aufrichtig bilanzierenden Rückblickpapier wurde im Jahr 2000 zwar von »neuen Poli-tikelementen in Ansätzen« gesprochen, aber klar eingestanden, von einem Politikwechsel könne keine Rede sein. Stark beeinflusst von der Regierungsbeteiligung sei die Tendenz erkennbar, alternative sozialistische Zielstellungen aufzugeben. Die in Halle/Saale lehrende Politikwissenschaftlerin Suzanne Schüttemeyer stellte im Hinblick auf Koalitionsbildungen die generelle Frage, ob Parteienvertreter nicht während der Legislaturperiode zumindest temporär die Sichtweisen ihres Koalitionspartners übernehmen. Davon sind offenbar auch PDS-Genossen in SPD geführten Kabinetten nicht frei.
Der eigentliche politkrimiähnliche Akt spielte sich am 17. Januar 2004 auf einer Sondersitzung des Landesparteitages ab. »In der Abstimmung entschied sich eine knappe Mehrheit für den Antrag, mit dem der Entwurf des Haushaltes als unzureichend abgelehnt wurde«, schreibt Birgit Schwebs, die übrigens selbst seit 1998 Landtagsabgeordnete und seit 2005 stellvertretende Landesvorsitzende ist. Das Ergebnis kam unerwartet. Von der Fraktionsspitze, den Ministern und dem Landesvorsitzenden wurde es abgelehnt. Das Arbeitspräsidium verkündete eine Pause und ordnete an deren Ende eine erneute Abstimmung an. Die ergab wieder eine knappe Mehrheit – nun aber zu Gunsten des umstrittenen Haushalts …
Vorangestellt sind dem hier skizzierten spannenden Bericht in dem GNN-Buch über sieben Jahre PDS in Mecklenburg-Vorpommerns Regierung zwei schwergewichtige theoretische Beiträge. »Interessen sozialer Akteure und ihre politische Vertretung durch die PDS in Mecklenburg-Vorpommern« beleuchtet der Ethik-Dozent Peter Kroh; »Bedingungen, unter denen die PDS in Mecklenburg-Vorpommern mitregiert«, reflektieren Edeltraut Felfe, Greifswald-Riemserort, und Gerhard Friedrich, Wirtschaftswissenschaftler aus Berlin. Alle drei erfreulicherweise nicht praxisfern. Im Gegenteil.
Kroh beispielsweise gibt ein eindringlich bedrückendes Bild vom Elend der »kleinen Leute« im Gefolge der Hartz IV-Maßregeln. Die wertet er als Ausfluss eines ökonomischen Totalitarismus. In einer Fußnote, die einen an jene in Marxens »Kapital«, Band I, denken lässt (über den »Horror vor Abwesenheit vor Profit«, mit dem berühmten Schluss: »300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert«), zitiert Kroh, was bei einer Anhörung zur neuen Arbeits- und Sozialgesetzgebung am 30. Mai 2005 im Rathaus Demmin Betroffene gesagt haben: »Ich habe 33 Jahre im Handel gearbeitet, war immer fleißig. Jetzt gehe ich Fensterputzen bei alten Omis – nur um am Wochenende was zu Essen auf den Tisch stellen zu können. Diesen Monat blieben uns 39 Euro übrig zum Leben.« Und: »So dreckig ging’s mir noch nie im Leben, ich sitze so manches Mal und heule. Die eisernen Reserven sind nach einem halben Jahr aufgebraucht.« Weiter: »Ich schäme mich dafür, keine Arbeit zu haben, obwohl ich nicht daran Schuld bin.« Oder: »Ich fühle mich degradiert.« Und: »Soll Armut wieder zu Demut führen?« Sodann: »In der Verfassung seht, die Würde des Menschen ist unantastbar. Mit Hartz IV ist das der blanke Hohn.« Denn: »Es geht für viele Familien ums nackte Überleben.« Aber: »Die verantwortlichen Politiker haben keine Ahnung von der Hartz IV-Realität.«
Die Demminer Wut im Jahre 5 des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends, im sechzehnten Jahr der Vereinigung, gibt Kroh Recht, wenn er in Hartz IV eine aktuelle Erscheinungsform des Klassenkampfs »von oben« sieht, dem bisher »von unten« nicht adäquat begegnet wird. Er spricht sich dafür aus, Teilnahme oder Nichtteilnahme von Sozialisten an Regierungshandeln danach zu entscheiden, ob und wie die Interessen von Leuten wie denen in Demmin beim Regieren zur Geltung gebracht werden können. Kritisch legt er sich mit Theoretikern an, in deren Gedankenflügen »die konkrete bundesdeutsche Gesellschaft, durch ständig reproduzierte soziale Ungleichheit und Herrschaft des Kapitals gekennzeichnet«, nicht vorkommt.
Felfe und Friedrich leisten in ihrem Beitrag Wesentliches zum Verständnis der Frage, mit welchen Bedingungen es demokratische Sozialistinnen und Sozialisten zu tun bekommen, die sich zum Mitregieren an der Seite von Sozialdemokraten entschließen: erstens Kapitalmacht in neuen Dimensionen, die durch Entscheidungen eines Landeskabinetts aushebeln zu wollen, illusorisch ist, zweitens Politik-Faktoren, die im Interesse der Kapitaleigner in Gang gesetzt werden, drittens Bemühungen um Gegenkräfte, ja Gegenmacht. Zur Entwicklung von Gegenmacht heben Felfe und Friedrich die Notwendigkeit von Aufklärung, von geistiger Mobilisierung hervor und weisen überzeugend nach: Für den Erfolg linker Parteien ist ausschlaggebend, das Wechselverhältnis ihres parlamentarischen Wirkens und ihrer gegebenenfalls Regierungsbeteiligung mit der Kraft und Aktivität, die sie im außerparlamentarischen Kampf entfalten. Das in solcher Weise fundierte »Nein« der PDS des Landes zum EU-Verfassungsvertrag führte zur Enthaltung des Ministerpräsidenten im Bundesrat (während dem Berliner Regierenden Bürgermeisters ein Ja ermöglicht worden war).
Von den hier zu lesenden, allesamt sehr interessanten Interviews sei an dieser Stelle nur darauf verwiesen, was die PDS-Landrätin des Landkreises Rügen, Kerstin Kassner, zur Kreisgebietsreform zu bedenken gibt. Sie fühle sich in dieser Sache nicht ernst genommen. Die Bürgerbefragung auf Rügen zur Selbstständigkeit des Kreises mit einem Ergebnis von mehr als 92 Prozent »Ja«-Stimmen ist nicht einfach zu ignorieren. Käme es zu einem Großkreis, würden die Interessen der Inselbewohner nur am Rande beleuchtet und möglicherweise von der Mehrheit derer vom »Festland« überstimmt werden.
Den Wert des vorliegenden Bandes erhöhen drei Rückblicke. Bernd Krause überschreibt seinen Beitrag mit »Das Magdeburger Tolerierungsmodell. Oder: Wir dachten, wir wären an der Macht, dabei stellten wir nicht einmal die Regierung«. Ellen Brombacher und Carsten Schulz fragen: »2006 erneut Rot-Rot in Berlin?« Mit Recht widersprechen sie der Legende, die Kritiker der Koalitionsvereinbarung hätten lediglich mit der Präambel Probleme gehabt. Mit einem Koalitionsvertrag wie dem vorgelegten hätte man nicht in die Regierung gehen sollen.
Historisches und Aktuelles zur Frage »Sozialisten in die Regierung?« blättert Heinz Niemann auf. Der Geschichtsprofessor erinnert an vergebene Chancen in Deutschland 1918 bis 1923, an Paul Levis Kritik der Reduzierung von Politik auf »Koalitionspartei z.D.« (zur Disposition) oder »i.W.« (im Wartestand), an westdeutsche Erfahrungen 1966 und 1969 sowie an Beispiele aus Italien und Frankreich. – Alles in allem: Nach Lektüre des Buches ist Hans Modrow zuzustimmen, der im Geleitwort die Erwartung artikuliert, die politischen Führungsgremien seiner Partei mögen sich mit gründlichen Analysen wie den hiesigen beschäftigen und konkrete Schlussfolgerungen ziehen.

Edeltraut Felfe/ Erwin Kischel/ Peter Kroh (Hg.): Warum? Für wen? Wohin? 7 Jahre PDS-Mecklenburg-Vorpommern in der Regierung. GNN, Schkeuditz 2005, 350 S., br., 15 EUR.

Neues Deutschland vom 9.3.2006

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