Die “Ver-rücktheit” unserer Kultur

Friedrich W. Sixel

Wer wie ich über ‚Die „Ver-rückheit“ unserer Kultur’ schreiben will, ist allem Anschein nach mit einem mundtot machenden Dilemma konfrontiert. Auf den ersten Blick hört der Titel sich so an, als ob der Versuch unternommen werden sollte, sich an den eigenen Haaren aus einem Morast zu ziehen. Kann ein „Ver-rückter“, gleichgültig ob mit dem ungewöhnlichen Trennungszeichen geschrieben oder nicht, denn überhaupt seinen eigenen Zustand erkennen ? Geschweige denn sich von ihm befreien ! Verblüffenderweise aber hat es zumindest seit Karl Marx nicht an Theoretikern gefehlt, die uns gesagt haben, wie tiefgreifend unsere Gesellschaft in Theorie und Praxis an unheilvollen Widersprüchen erkrankt ist. Diese auch für die heutige Zeit zu verstehen scheint zu verlangen, dass man jetzt gleichfalls den beschwerlichen Weg des Theoretisierens einzuschlagen hat. Bei einem solchen Unterfangen zeigt sich dann jedoch – weitere Verblüffung – wieder eine Schwierigkeit, nämlich die, dass das theoretisierende Denken heute selbst, trotz intellektuell klarer, wenngleich negativer Ergebnisse, auch an der grundlegenden Mangelhaftigkeit unserer Kultur leidet, insofern als diese Art des Denkens keinesfalls, auch nicht wenn kritisch betrieben, zum praxis-relevanten Sinneswandel führt (1). Bei dem Versuch, die Schwierigkeiten der theoretischen Gesellschaftsanalyse zu skizzieren, offenbart sich dann die alte Weisheit, allerdings auf neue Weise, dass es nicht darauf ankommt, die Welt bloß zu interpretieren, sondern sie zu verändern, und das heißt, sie verändern zu wollen.
Niklas Luhmann, der vielgelesene, wenngleich nicht kritisch zu nennende Theoretiker moderner Gesellschaftssysteme, schrieb einst: Alles ist relativ, und das ist eine relative Aussage. Letzteres bedeutete ihm, dass diese seine Erkenntnis relativ zu unserem Zeitalter ist, nicht zu anderen. Erst heute sind wir so weit, den Bezugsrahmen des Denkens uneingeschränkt dann variieren zu können, wenn Interesse an veränderten Interpretationen auftritt. Dies verlangt, nach Luhmann, eine evolutionär erst jüngst erreichte Abstraktions- und Individuationsebene und gewährt jetzt jedem Individuum beliebige begriffliche Kreativität. Es macht demnach die Modernität unserer Kultur aus, dass sie das begriffliche Rüstzeug dafür zur Verfügung stellt, Information von Sachen – und nur sie, nicht die Sachen selbst – jederzeit umdeuten zu können.
Offensichtlich wird hier zwischen der materiell-konkreten Sache und dem von ihr abstrahierten Begriff eine Trennungslinie so gezogen – „beliebige Kreativität“ – , als ob Sache und Begriff nichts gemeinsam hätten, sie von völlig verschiedener Art seien. Hierzu aber darf gefragt werden, ob es nicht der Mensch ist, der den Begriff von der Sache erschafft und ob nicht wenigstens der Mensch ein Gemeinsames mit der materiell-konkreten Sache haben muss, von der er sich einen Begriff macht. Auf keinen Fall, so darf man sagen, würde der Mensch eines Begriffes fähig sein, wenn er nicht selbst Sache, also Teil der materiell-konkreten Natur wäre. Ja, wir müssen soweit gehen zu sagen, dass der Gedanke selbst nur existiert, wenn er selbst zur Sache wird. Ein Gedanke, der nicht gedacht wird, also nicht von einem Gehirn „getan“ wird, und/oder nicht in einem Zeichen, sei es in einem Wort oder in eingeritzten Kerben materialiter in Erscheinung tritt, ist nicht von dieser Welt. Mensch, Begriff und Sache haben also ein Gemeinsames: sie sind von dieser Welt, sind Natur, sind Materie.
Das heißt nicht, dass eine Sache und der Begriff von ihr dasselbe sind. Dem Begriff haftet ein die bloße Sache „Übersteigendes“ an, nämlich Bedeutung. Als Produkt der Arbeit des Gehirns existiert auch sie nur dort und nur dann, wenn ein Gehirn sie denkt. Selbst das gedruckte Wort oder der gesprochene Satz enthalten keine Bedeutung. Sie muss von denen, die miteinander kommunizieren, immer wieder neu erstellt werden. Andernfalls wären das bloße Sehen und Hören schon genug, um etwas zu verstehen. Auch in dieser Hinsicht muss die Arbeit des Gehirns dazukommen, um Bedeutung zum Leben zu verhelfen. Nur in dieser in der Tat materiellen Arbeit existiert sie für uns. Ob es Bedeutung noch sonst wo gibt, ist eine müßige Frage. Wenn ja, läge sie in Bereichen, die wir nicht betreten können (2).
Schon seit langem, mindestens seit Kant, haben uns Philosophen gelehrt, dass das Erkennen, und damit auch das Wissen und Denken, eines Bezugsrahmens („Kategorien“) bedarf, um auf den Weg zu kommen. Auch Bezugsrahmen leben nur dann und nur im Gehirn, wenn sie von ihm gedacht werden. Ohne auf diesen Umstand des weiteren eingegangen zu sein, waren es vor allem Hegel und Marx, die den Gedanken an Bezugsrahmen dynamisiert haben, wenngleich aufgrund markant unterschiedlicher Ansätze zwischen beiden, dann aber immer noch in dem von ihnen geteilten Sinne, dass historischer Wandel mit dem Wandel kategorialer Bezugsrahmen einhergeht. Heute sprechen wir, wie wir beim Hinweis auf Niklas Luhmann sahen, von der beliebig häufigen Flexibilisierung solcher Bezugsrahmen. Ja, unsere heutige Praxis in Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Recht etc. ist bis hin zum individuellen Agieren ohne diese Art von „Kreativität“ nicht mehr denkbar.
Die Notwendigkeit kategorialer Bezugsrahmen mag zwar offensichtlich sein, aber es bleibt dann immer noch die Frage, ob das bloße In-Betrieb-Nehmen solcher Bezugsrahmen hinreichend ist, um Erkenntnis- und Denkprozesse in Gang zu bringen, oder gar vorhandene Bezugsrahmen zu wandeln. Diese Fragen sind nur selten mit der notwendigen Gründlichkeit aufgeworfen worden. Man hat zwar als treibende Kraft „hinter“ Erkenntnisprozessen immer wieder Begriffe ins Feld geführt, wie etwa Kants „Spontaneität“, Habermas „Erkenntnisinteresse“ oder jüngst den Hinweis der Hirnforscher auf das „Zünden der Neuronen“, aber man hat sie nicht hinreichend eruiert. Auch zur Erklärung des Wandels geistiger Bezugsrahmen hat man eine Reihe von Begriffen vorgeschlagen, z. B. den der „Krise“ und auch den der „Kritik“. Aber die Frage bleibt, was sich denn materialiter hinter all diesen Begriffen versteckt. So weit zu sehen ist, hat man den Bezug dieser Konzepte zur innermenschlichen Natur, unter anderem dem Gehirn und den Kräften, die das „Zünden“ stimulieren, nur selten in Augenschein genommen. Zur Klärung dieses Bezuges ist sicher noch viel Forschungsarbeit zu leisten, und die geht selbstverständlich über die hier anzustellenden Überlegungen weit hinaus.
Wenn wir aber das Wenige in Betracht ziehen wollen, das hierzu an Arbeit erbracht worden ist, dann kommen einem zwei Denker in den Sinn, die nur auf den ersten Blick weit voneinander entfernt sind, nämlich Goethe und Marx. Ihre Überlegungen zu diesem Problemkreis sollen deswegen hier skizziert werden.
Gemeinsam ist beiden, dass sie der Natur den Primat über den Geist geben. In diesem Sinne ist auch Goethe Materialist. Diese Gemeinsamkeit reicht „hinunter“ in eine Schicht, zu der nur selten und fast nie von Theoretikern vorgedrungen wird, auf die aber gerade wir Heutigen vorstoßen müssen. Diese Schicht liegt „vor“ allem Erschaffen von Begriffen, unterliegt ihm aber und ist konstitutiv für alles Erkennen und Denken.
Goethe spricht davon, dass es „der Wille“ vor allem anderen ist (3), der uns mit der Natur verbindet. Es muss hervorgehoben werden, dass Goethe Wille und Entscheidung klar auseinander hält. Wille liegt vor aller Entscheidung (4), ist rein körperlich, während eine Entscheidung sehr wohl gegen den Willen gefällt werden kann. Wille als körperlich-naturhafter Antrieb ist jedenfalls für Goethe unverzichtbare Bedingung allen Erkennens und Wissens. Diese körperlich-naturhafte Bedingung des menschlichen Bezuges zur Welt gilt es nach Goethe zu kultivieren, damit sie in all ihren geistigen „Steigerungen’ (Goethe) mit der Natur „da draußen“ und damit auch der im Mitmenschen im Einklang bleibt. Die von ihm als sein Hauptwerk angesehene „Farbenlehre“ beginnt nicht ohne Grund mit den Worten „Die Lust zum Wissen“ (5). All dies heißt für ihn nicht nur, dass er beim Erforschen und Erkennen der Natur von seiner eigenen Sinnlichkeit, also seiner inneren Natur ausgeht, es heißt auch, dass er bei dem, was er „Theoretisieren“ über die Natur nennt, immer wieder prüft, ob er im Begriffsbildungs- und weiteren Forschungsprozess seiner eigenen Natur und der um ihn herum als wahrheitsweisende Instanz treu bleibt. In dieser Weise versucht er, Natur in seinem Erkennen und Denken bis in höchste Abstraktionen hinein „aufzuheben“. Erkennen, Wissen und Denken gelten ihm nur als wahr (6), wenn sie ihm „bequem“ bleiben. Wenn das nicht mehr der Fall ist, also eine ihm unerträgliche Diskrepanz zwischen innerer erkennender und äußerer Natur aufkommt, ist das für ihn der körperlich empfundene Anstoß zum Wandel seines Denkens.
Hier wäre zwar der richtige Ort, aber definitiv nicht der Raum, die Diskrepanz zwischen Goethes Naturwissenschaft und der heute vorherrschenden zu diskutieren (7). Auch will ich auf keinen Fall hier das von Rudolf Steiner in seiner „Goetheanischen“ Anthroposophie propagierte Verständnis von Natur in Betracht ziehen. Wie ein kluger Kopf mal sagte: Rudolf Steiner hat Goethe durch sein Spekulieren vor allem „versteinert“, eben dogmatisiert. Dies aber wäre in keiner Weise in Goethes Sinn gewesen, hätte er es erlebt. Hat doch Goethe, wie selten gesehen wird, gerade den Pluralismus und die Flexibilität im Erfassen der Natur so sehr betont (8).
Ungeachtet der schwierigen Frage, ob Erkenntnisse von der Natur überhaupt plural oder flexibel sein können, darf an dieser Stelle dennoch gefragt werden: Beruhen unsere Probleme mit der „Umwelt“ etwa auf dem Nicht-Zutreffen unserer Naturwissenschaften ? Wenn sie uns aber trotz Zutreffens nicht vor einem falschen Umgang mit der Natur bewahren, so muss man weiter fragen, ob es nicht sein kann, dass mit den Naturwissenschaften insofern etwas nicht stimmt, als sie in ihren Erkenntnisprozessen die menschliche Natur verdreht und sie dadurch zu falschen, weil der Natur des Menschen schadenden Ergebnissen führt (9). In diesem Zusammenhang möchte ich es hier nur noch mit einer weiteren Frage sein Bewenden sein lassen: Könnte es nicht sein, dass der Konkurrenzkampf nicht nur unter den Naturwissenschaftlern, sondern in weitesten Bereichen unserer Gesellschaft dazu beiträgt, die Forschung in Richtungen zu treiben, die dem Menschen, der doch Teil der Natur ist, zuwider gehen ? Dieser wichtigen Frage kann hier nicht im einzelnen nachgegangen werden. Es dürfte aber plausibel sein (10), dass Konkurrenzkampf generell Entscheidungen für die Sicherstellung von Mitteln fordert und damit die notwendig erstrangige „Lust zum Wissen“ zweitrangig werden lässt. Durch Instrumentalisierung wird Lust, also unsere innere Natur, offensichtlich frustriert und erlebt nicht ihre Befriedigung. Im Instrumentalismus der herrschenden Kultur zum Prinzip erhoben, wird die Natur in uns von ihrer ersten Stelle „ver-rückt“ und erlaubt damit einen nur „ver-rückten“ Zugang zur Natur um uns.
Hier ist es nun an der Zeit, sich Karl Marx zuzuwenden, dem ja die Entfremdung des Menschen von der Natur, herbeigeführt vom Kapitalismus, so geläufig war.
Der tiefgründige, ja vor dem Erkennen selbst gelegene Ort des Anstoßes zum Wandel im Erkennen und Denken, der, wie wir oben sahen, bisher so selten in der dominanten Denktradition ausgemacht werden konnte, ist auch von Marx klar identifiziert worden. Zwar kann man es in unserem Kontext als ein Produkt von Oberflächlichkeit ansehen, wenn er den Anstoß zur Revolutionierung der kapitalistischen Lebenswelt im unerträglich werdenden Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital entdeckt hat, aber er hat dabei auf keinen Fall übersehen, dass der Entschluss zum Nein zu den herrschenden Verhältnissen aus einer ähnlich tiefen Schicht kommt, die Goethe auf andere Weise erreicht hat. Auch Marx identifiziert diese Schicht als die, die allem Denken und Erkennen voraufgeht, nämlich die Schicht der körperlichen Natur. Hunger und Elend sind es für Marx (11), also ein Leiden der innermenschlichen Natur, die den Willen des Menschen zum Aufbegehren erwecken und damit zum bewussten Entschluss führen, die Verhältnisse zu wandeln. Es ist dabei keine Frage, dass für Marx das tödliche Missverhältnis des Bezugs zwischen Arbeit und Kapital erst dann zur Richtigstellung reif ist, wenn der Mensch aus seiner inneren Natur („Hunger“) heraus dieses Missverhältnis richtig stellen will, also aus „wahrem Bewusstheit“ handelt.
Ähnlich wie Goethe hat auch Marx sich nicht dagegen wehren können, dass seine Vorstellungen und Vorschläge dogmatisiert worden sind. Stalin hatte in dieser Hinsicht wohl am meisten die Hand im Spiel. Aber dies heißt auch für Marx’ Denken nicht, dass es nicht von Dogmatisierung befreit werden kann.
Missverhältnisse zwischen Mensch und Natur – innerer wie äußerer – zu verspüren haben wir Heutigen noch viel mehr Grund als unsere Vorfahren, inklusive Karl Marx. Er sprach schon – nicht immer, aber hier und da und in grundlegender Weise – vom Menschen als der „Anderen Natur“, die aber selbst noch in ihrem Anderssein, in ihrer Geistigkeit, Teil der Natur bleibt (12). In diesem Sinne ist Natur für Marx das einigende Band zwischen Natur, Mensch und Mitmensch. Wenn wir aber heute allen Grund haben, dieses einigende Band, wenn auch in seiner Verdrehung, leidvoll zu spüren (Klimawandel, Ressourcenknappheit, Abwärme etc. bis hin zu Prekarisierung und Hungertod von Millionen von Menschen) und trotzdem weiter so verfahren, als sei alles in Ordnung, dann erheben sich zwei Fragen: einerseits, warum uns das nicht bis ins Gebein hinein beunruhigt, und andererseits, ob wir nicht einer Immunisierung erliegen, die dahin geführt hat, dass wir z. B. das Reden von „Umwelt“-schutz, „Umwelt“-schäden, „Umwelt“-ministerien etc. hinnehmen und nicht als täuschendes Geschwätz erkennen. Könnte es nicht geradezu der Zweck solchen Geredes sein, den Irrsinn zu „kultivieren“, der Mensch sei nicht selbst Natur ?
Wer diesen grundlegenden Irrsinn unseres Erkennens und Denkens nicht nur theoretisch einsieht, sondern ihn vor allem leid ist und auf der Grundlage dieses körperlich empfundenen Leids sein Leben neu gestalten bzw. umgestallten will, bedarf nicht mehr primär des philosophischen oder gar kritischen Theoretisierens. Er weiß auf neue Weise, dass es nicht darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie verändern zu wollen. Deswegen führt Theorie, wie oben kurz dargelegt, allenfalls zur Erkenntnis von Problemen, z. B. denen, die wir mit der „Umwelt“ haben, kann aber nicht den Willen zum Wandel ins Leben rufen. Diese Einsicht, also der in die begrenzte Kraft der Theorie, hat in der Tat weit reichende Konsequenzen.
Die „Ver-rücktheit“ des jetzt dominierenden Erkennens durchdringt selbstverständlich nicht nur ein paar Begriffsbildungen, sondern hat längst zu Metastasen im gesamten Körper unserer Kultur geführt. Wer sich z. B. den Medien aussetzt und damit den „ver-rückten“ Äußerungen unserer „Eliten“, läuft Gefahr, vor lauter Widersprüchlichkeiten den gesunden Menschenverstand zu verlieren. Man bedenke nur ein zentrales Beispiel: Einerseits soll die „Umwelt“ geschützt, andererseits soll das Wirtschaftswachstum gesteigert werden. Wehe dem Politiker, der diesen irrsinnigen Widerspruch nicht mitträgt und gar ins Land hinaus posaunt ! Seine Wiederwahl kann er getrost vergessen; er wird weder von seiner Partei noch einmal als Kandidat aufgestellt, noch vom Wähler gewählt werden.
Dies ist schon genug als Zeichen dafür, dass der dominierende Globalkapitalismus längst den Wähler, sei er Arbeiter oder Boss, über das Hirn hinaus bis in Mark und Bein durchdrungen hat und damit den alten Klassenkampf „aufgehoben“, jedoch keineswegs abgeschafft hat. Dummes Geschwätz kann ja nicht nur „verkauft“ werden, es findet auch begierige „Käufer“. Nicht nur im geographischen Sinne des Wortes ist also der herrschende Kapitalismus „global“ geworden. Gegen ihn bloß mit der guten alten Vernunft anzugehen, ist zwecklos. Deswegen ist es heutzutage nur Zeichen falschen Bewusstseins, weiterhin den einstmals vielleicht vernünftigen Versuch zu machen, den Menschen mit Worten zu kommen. Was haben denn die unzähligen Verlautbarungen zum „Umwelt“-schutz – oder auf höherem Niveau – zur „Ökologischen Krise“ bisher erbracht? Mit solchen kritischen Übungen wird man heute allenfalls zum Vertreter in Sachen Moral und hat dann bestenfalls die Chance, sich als Moralunternehmer Anerkennung zu verschaffen, bleibt aber dann Mitspieler im globalkapitalistischen Zirkus.
Wenn diese Überlegungen nicht grundverkehrt sind – wenig spricht dafür – , dann besagen sie, dass ein Durchbruch in eine gangbare Zukunft nur dort und mit denjenigen Menschen gefunden werden kann, die den Hunger danach verspüren, endlich mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Nochmal sei es gesagt: Die Welt bloß als „ver-rückt“ zu interpretieren nutzt nichts; es gilt sie verändern zu wollen. Keiner sage aber, Menschen diesen Willens gäbe es nicht! Trotz widriger Verhältnisse sind Beispiele hierfür publik geworden. Aber – und das sei schon jetzt hervorgehoben – dies sind immer vereinzelt und isoliert bleibende Fälle gewesen. Dementsprechend hatten sie keinen verändernden Einfluss über ihren eigenen Horizont hinaus. Von ihnen jetzt eine nur kleine Auswahl !
Frisch werden vielen Menschen noch die Ereignisse in Erinnerung sein, die sich mit dem Schlagwort „Stuttgart 21“ verbinden. Trotz ihrer wie üblich verzerrten Darstellung in den System konformen Medien kam es für eine breite Öffentlichkeit ans Tageslicht, dass die kapital- und machtbesitzende Elite ihre Interessen auch dann durchzusetzen versucht, wenn dies gegen „Umwelt“ und Mitmenschen geht. Und dies unter Anwendung rohester Gewalt ! Auf den Nenner gebracht: es stört die „ver-rückten“ Eliten nicht, den Einigkeit stiftenden Bezug Natur – Mensch – Mitmensch brutal durcheinander zu bringen, wenn es ihren Partikularinteressen dient. Das geschah in Stuttgart im Namen von „freiem Unternehmertum in einer freiheitlichen Demokratie“, was von den dort Protestierenden aber nur als Hohn empfunden werden konnte. Gleichzeitig machten die Demonstranten aber auch eine lebensbereichernde Erfahrung: über Alters- und Einkommensstufen hinweg versorgte der eine den anderen Teil der Demonstranten, die ja monatelang „im Einsatz“ waren, mit Speis und Trank, erster Hilfe und anderen Notwendigkeiten. Sinnlich wurde so von Tausenden von Menschen erlebt, was es heißt zusammen ein Volk zu sein und nicht eine Agglomeration Vereinzelter.
Zu unterstreichen ist, dass der Verlauf der Demonstrationen die Menschen buchstäblich am eigenen Leib erfahren ließ, dass der Klassenkampf, wie er im traditionellen Kapitalismus herrschte, nicht zuende, sondern bloß „aufgehoben“ ist. Diese Erfahrung wurde in zwei Schritten gemacht. Zunächst mussten die Menschen, die für den Erhalt eines zumindest erträglichen Stadtareals waren, feststellen, dass sachgemäßes Miteinanderreden zwischen ihnen und den Kapital- und Machthaltern an den partikular bleibenden Interessen der letzteren scheiterte. Wussten diese doch zunächst mit allen möglichen Interpretationen ihres Vorhabens dessen großen Allgemeinnutzen zu „verkaufen“. Als das Volk darauf nicht mehr hereinfiel, wurde von den Bauherren rohe Gewalt „wie in alten Zeiten“ eingesetzt, genau so wie es sich im traditionellen Klassenkampf gehörte. Zum anderen wurde vielen Menschen dabei klar, dass ihr Glaube an die Mär von „freiheitlicher Demokratie“ nur ein zusätzlicher Betrug an Menschen ist. Sie sahen, dass sie mit ihrem Glauben an diese Mär des klaren Blickes beraubt waren. Mehr als je zuvor erhält der Kapitalismus sich heute durch das Stehlen des Denkvermögens, also des geistigen Kapitals (13). Nicht Ideologiekritik oder sonstiges Philosophieren bescherte ihnen diese Erkenntnis, sondern Wasserwerfer und Gummiknüppel.
Auf die Frage, ob diese Erkenntnis den Menschen in politisch wirksamer Weise haften blieb, ja haften bleiben konnte, gibt es als Antwort nur ein klares Nein. Der Grund dafür ist ein doppelter, in jedem Aspekt aber sachlich-konkret fassbar: Einerseits wurde durch einen regierungsamtlichen Vermittler in der Auseinandersetzung zwischen Volk und Machthabern, aber auch durch die Etablierung von langatmig vorgehenden Sachverständigenkommissionen und schließlich durch das Berichten über diese Schlichtungsversuche in den Medien der Widerstand des Volkes eingeschläfert. Der Sinn für das Zusammengehören legte sich zur Ruh. Andererseits blieb der Fall „Stuttgart 21“ trotz, oder besser: wegen der „offenen Berichterstattung“ darüber, isoliert. Nachrichten in Wort und Bild sind eben keine sinnlichen Erlebnisse für Konsumenten von Medienberichten. Für sie blieb „Stuttgart 21“ ein „event“ neben vielen anderen. Eine wirklich konkrete soziale Vernetzung mit Menschen, die Ähnliches an anderen Orten oder zu anderen Zeiten erlebt hatten, fand nicht statt. So wurde in der Sache „Stuttgart 21“ ein Durchbruch in eine gangbare Zukunft von denen, die mit dem Erhalt des Status quo ihren Gewinn machen, erfolgreich vereitelt.
Bei einer Betrachtung von „Stuttgart 21“ darf auch nicht übersehen werden, dass diese Aktionen von politischen Parteien und ihren Ideologien weder eingeleitet noch angeführt worden sind. Sie gingen von niemandem anderen aus als vom Volk. Dies muss aus zwei Gründen festgehalten werden: 1.- Wie in allen anderen hier noch zu analysierenden Fällen waren Politiker allenfalls Teilnehmer, gewissermaßen im zweiten oder dritten Glied, ansonsten aber haben sie entweder Abstand gehalten oder gar Ablehnung geäußert. Deswegen aber muss 2.- gefragt werden, ob Parteien noch eine Aufgabe haben bei Versuchen, den herrschenden Globalkapitalismus zu überwinden. In dem Zusammenhang gilt zu klären, ob selbst die Politiker, die ebenfalls aus der heutigen Situation eine Zukunft eröffnen wollen, nicht erst noch ihre Rolle gegenüber denjenigen Menschen finden müssen, die sich ihrerseits um einen Weg in die Zukunft bemühen. Darauf wird noch einzugehen sein.
Eine ähnliche Erfahrung wie „Stuttgart 21“, aber angereichert mit zusätzlichem Lernstoff, machten vor mehr als 35 Jahren die Arbeiter und Angestellten der britischen Firma „Lucas Aerospace“ (14). Dieser Betrieb sollte wegen einer Absatzkrise geschlossen und die Belegschaft von zum Teil hochqualifizierten Luftfahrttechnikern entlassen werden. Nun war kein Zweifel, die Gesamtwirtschaft des Westens war während der frühen 70er Jahre in einer Krise und diese schlug sogar auf die Rüstungsindustrie durch. „Lucas Aerospace“ blieb davon nicht verschont. Die Belegschaft erfasste indes die Lage in einem größeren Zusammenhang und dies in aller Klarheit: nicht sie waren in einer Krise, sondern die Unternehmerinteressen. Die im Betrieb schaffenden Menschen vom Arbeiter bis zum Ingenieur verfügten nach wie vor über ihr Wissen und ihre Handfertigkeiten. Sich dessen bewusst bleibend schlugen sie vor, statt für die Kriegs- („Verteidigungs“-) industrie an der Herstellung umweltpolitischer [sic!] und gesellschaftlich nützlicher Produkte zu arbeiten. Eine Palette von 150 Produktideen wurde von der Belegschaft erstellt und hätte den Betrieb mit großer Wahrscheinlichkeit am Leben erhalten. Die Unternehmensleitung ging darauf jedoch nicht ein, und an deren „Recht“ wollte die damalige britische Labourregierung (!) nicht rütteln. Politische Macht und Kapitalinteressen marschierten auch hier, wie in Stuttgart, in Reih und Glied. Dies lag klar auf der Hand, und die Belegschaft hatte das Nachsehen.
Autoren, die diesen Fall Jahre später analysierten (15), machen dazu noch einige höchst bemerkenswerte Beobachtungen, und zwar: Nicht-kommerzielle soziale Netzwerke im Internet (damals noch nicht vorhanden) hätten in dieser Situation gewiss ihren Nutzen gehabt (wie sich bei den jüngsten politischen Umschwüngen in Nordafrika und im Nahem Osten gezeigt hat). Aber es wurde auch gesehen, dass sie nicht genügen in Situationen, die das Potential zu tiefgreifendem Wandel in sich bergen. Vielmehr bedürfen sozio-ökonomisch relevante Aktionen, wie schon vor über 30 Jahren eingesehen, der physisch greifbaren Zentren. Wieder gilt, wie bei „Stuttgart 21“, dass wahrhaft in die Zukunft weisende Aktionen ohne direkten sinnlich erlebten Verbund unter Menschen sich nicht weithin durchsetzen können und damit zum Scheitern verurteilt sind. Konkret-punktuelle Aktionen bedürfen der geographisch und sozial weiter gespannten Vernetzung in der Bevölkerung. Ob hierbei die herrschenden Medien von Nutzen sind, darf, wie oben erwähnt, bezweifelt werden. Es geht hier vielmehr darum, dass Versuche, die darauf zielen, zukunftsvereitelnde Machtstrukturen zu beseitigen, in direkten Kontakt zueinander treten müssen. In Isolation gehalten werden sie neutralisiert und mutieren später allzu oft zu nostalgischen Erinnerungen der einst Beteiligten.
Die Einsicht, dass eine grundlegende Veränderung der kapitalistischen Produktionsweise sozial, und das heißt, von weiten Kreisen der Bevölkerung, mitgetragen werden muss, erwuchs ebenfalls, als es in den frühen 80er Jahren in Norddeutschland zu einer Werftenkrise u. a. bei Blohm & Voss kam (16). „Arbeitskreise Alternativer Produktion“ wurden gegründet, und sie wurden angesehen als „Typ der Interessenvertretung mit allgemein-politischer Orientierung“ (meine Hervorhebung, FWS). Eines der zentralen Ziele dieser Arbeitskreise war die Wendung weg von quantitativem Wirtschaftswachstum hin zu einem qualitativen. Auch dieser recht breit angelegte Konversionsversuch von Wirtschaft und Gesellschaft scheiterte, nicht nur am Widerstand der Unternehmensführer, sondern auch an dem der Gewerkschaftsspitzen. Dabei war an eine Verstaatlichung von Firmen nicht gedacht, wohl vor allem weil eine Verstaatlichung überflüssig wird, wenn in den Betrieben demokratisch produziert wird.
Noch ein letztes Beispiel für einen versuchten grundlegenden Wandel sei hier angefügt. Seine spezifische Bedeutung liegt neben anderem darin, dass er über den Bereich der Produktionsbeziehungen hinaus auch den der Konsumption ins Spiel zu bringen versuchte.
Stephan Krull, ehemaliger Betriebsrat bei VW Wolfsburg und jetzt Mitglied im Attac Rat, berichtet darüber, wie die seitens der Betriebsführung von VW in den Jahren 1996 bis 2004 eingerichtete 4–Tage–Woche mit 6–Stunden–Tagen von der Belegschaft erlebt wurde (17). Diese Arbeitszeitverkürzung war nicht, wie behauptet wurde, ein Beitrag zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit angesichts erhöhter Produktivität. Im Verständnis der Belegschaft wurde indes diese Arbeitszeitverkürzung „umfunktioniert“ in ein „emanzipatorisches und demokratisches Projekt“. Es war für sie vor allem ein Zuwachs an „Zeitreichtum und Zeitsouveränität“. Zusammen mit sozialer Grundsicherung verstand sie diesen Zuwachs als „… die Voraussetzung … zu einer Lebensführung neuer Art“, mit „…weniger Konsum von dem, was uns ohnehin nicht glücklich macht“ (meine Hervorhebung, FWS). Krull drückt ein Empfinden, das allgemein vorherrschte, per Zitat so aus: Wenn die Zeit „nicht fremdbestimmt ist. Das nenne ich Leben“.
Kann man deutlicher sehen, dass Fremdbestimmung bei der Arbeit und beim Konsum kein Leben ist ? In der hier von mir gewählten Terminologie heißt das, dass ein Leben ohne eigenen Willen eine Verdrehung der eigenen inneren Natur bedeutet, also „ver-rückt“ ist, und so den nie satt machenden Konsumwahn auslöst. So häufig nur das zu konsumieren, wonach einem der wirklich eigene Wille nicht steht, lässt den eigenen Willen ja immer wieder leer ausgehen, so dass er den Menschen als wirklich eigener Wille sogar abhanden kommt. Aber dann gibt es auch keine echte Befriedigung mehr, und das führt dazu, dass immer mehr konsumiert wird. So werden sich, wie allerorten zu beobachten ist, Verbraucher leicht mit den kapitalistischen Produzenten darin einig, dass Wirtschaftswachstum das allein selig machende Prinzip ist. In demjenigen, der von hier aus den Zusammenhang zwischen „ver-rückter“ Konsumption und „ver-rückter“ Produktion wahrnimmt, „(b)eginnt … die Bereitschaft, über Veränderungen nachzudenken …“ , so jedenfalls sagt Stephan Krull. Und wir wollen auch hier beachten, dass er dies erfährt, ohne von Philosophie, Theorie oder gar Ideologie dazu angeleitet worden zu sein.
Stephan Krull sieht aber auch, was es bedeutete, dass „…dem ‚Modell Volkswagen’ keine anderen Betriebe folgten“. Hierzu hätte es seiner Erfahrung nach der Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und eines „Branchenrates“ bedurft. Der Wille zum Umdenken scheitert in der Tat, wo er auf die Masse der Mitmenschen nicht überspringen kann. So wurden dann im Jahre 2006 die menschenwürdigeren Arbeitszeiten bei VW wieder aufgehoben; der Umsatz musste schneller wachsen. Das alte, fremdbestimmte Leben feierte ungute Wiederauferstehung mit allen seinen Konsequenzen. Heute „schwimmt“ VW so sehr in Gewinnen (2010 war das Jahr des höchsten Gewinns in der Firmengeschichte !), dass es die Aktienmehrheit bei Porsche erwerben konnte und seine Kapazitäten weiter ausbaut ! Keine Sorge: Auch bei diesem „Wachstum“ wird im Sinne der heute vorherrschenden Weisheit dem „Umwelt“-schutz Rechnung getragen werden, auch dies wie bisher.
Diese wenigen Beispiele von Wandlungsversuchen der bestehenden Verhältnisse zeigen, dass dort, wo die „Ver-rücktheit“ unseres Lebens tief genug, also leiblich erfahren wird, auch der Wille entspringt, diese „Ver-rücktheit“ zu überwinden. Dieser Wille ist von solch grundlegender Qualität, dass er wie der Globalkapitalismus auch global ausgreift. Er kann nicht anders, als auf den Wandel von Kultur und Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu zielen, also auf die „Polis“. Menschen dieses Willens bedürfen aber, wie wir sahen, der Bündnispartner. In der Vereinzelung ist da im Wortsinne nichts zu machen. Damit kommt die Frage auf, wo Menschen dieses Willens in der real existierenden politischen Landschaft zu finden sind. Es scheint, dass dies in Deutschland allenfalls in der Partei „DIE LINKE“ möglich sein wird. Ihre Publikationen, vor allem die ihrer „Ökologischen Plattform“, zeigen zwar nicht immer aber oft an, dass es ihr nicht bloß um „Umwelt“-schutz als einem unter vielen anderen Problemen geht, sondern dass es ihr um das allem anderen zugrundeliegende Problem des naturgemäßen Lebens zu tun ist. Die Zurechtrückung des, wenn man so will, dialektischen Verhältnisses zwischen Natur und Mensch, ist ihr das Anliegen.
Wer dies versteht, der weiß auch, dass ein „Fahrplan“ für richtige Politik, im Voraus aufgestellt, nur wieder die Gewissheit vom Vorrang der Natur zunichte macht. Papierene Festschreibung des Vorranges der Natur, etwa in einem Parteiprogramm, würde nur wieder den Vorrang der Natur verneinen. So ließe sich die Flexibilität modernen Denkens, hinter die ja niemand zurück kann, bestimmt nicht „aufheben“. Es muss darüber hinaus die Frage aufgeworfen werden, ob Politik überhaupt noch in den alten Formen der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie mit Parteien, Parlamenten, Parteiprogrammen etc. gangbar ist. Zuvor aber muss ausprobiert werden, ob DIE LINKE als eine, zumindest in einigen ihrer Teilgliederungen, fortschrittlichen Kraft, in dieser Hinsicht eine Zukunft eröffnende Rolle spielen kann. Deswegen geht es vor allem darum, ob DIE LINKE Glaubwürdigkeit hat oder gewinnt als eine Vereinigung solcher Menschen, die wie die zukunftsorientierten Menschen in den oben geschilderten Fällen, frei von jedem Dogma auf der Höhe der Zeit ist. Der Weg zu diesem Ziel soll hier keinesfalls festgeschrieben, höchstens als Vorschlag skizziert werden.
Glaubwürdiger linker Politik muss indes klar sein, was sie zum jetzigen Zeitpunkt bestimmt nicht wollen kann, nämlich sich an der Macht beteiligen, die den Status quo zu erhalten sucht. Eine Beteiligung an so eingestellten Regierungskoalitionen, gleichgültig ob im Bund, in Ländern oder Städten, ist heute fraglos nicht akzeptabel. Positiv gewendet heißt das in Anbetracht der oben skizzierten Fälle von Kapitaldiktatur, dass eine Regierungsbeteiligung der LINKEN nur mit solchen Partnern möglich ist, die sich für die sofortige Herstellung von Demokratie in der Wirtschaft einsetzen. Das muss, wie oben bemerkt, nicht bedeuten, dass Firmen in Staatseigentum überführt werden, aber Arbeit und Kapital müssen im Namen einer gangbaren Zukunft das gleiche „Sagen“ haben. Einzelheiten hierzu müssen wegen der Unterschiedlichkeit lokaler Gegebenheiten den Beteiligten überlassen werden.
Glaubwürdigkeit bei zukunftsorientierten Menschen verlangt aber auch, dass DIE LINKE ihre Parlamentsarbeit neu bedenkt. Es ist publiziertes Wissen (18), dass die Verfilzung von Politik und Wirtschaft zu einer systemisch zu nennenden Korruptheit der Parlamente und Parteien geführt hat. Diese Korruptheit gehört nicht nur zu den „Machenschaften der Macht“ (Arnim), sondern wird – nicht immer aber meist – auch vom Volk hingenommen, „gekauft“. Diese Art von Geschlossenheit des herrschenden Systems hat die Parlamente zu Trutzburgen des Globalkapitalismus gemacht. Abgeordnete bekennen, wenn auch nur vereinzelt öffentlich (19), dass sie nur noch zum „Abnicken“ von Gesetzesvorlagen benötigt werden. Damit haben die Machthaber ihre Reihen fest geschlossen und das Parlament zu einer Quasselbude degradiert. Mitarbeit in einer solchen Art von Parlament erzwingt fast den Verdacht, dessen Unglaubwürdigkeit zu teilen. Dort und unter den dort vertretenen Parteien Verbündete zu suchen, kann Menschen, die außerhalb von Parlamenten und Regierungen den Status quo unserer Gesellschaft, also ihre „Ver-rücktheit“, überwinden wollen, kaum in den Sinn kommen. Deshalb wären auch Parlamentarier der LINKEN derzeit nicht frei von dem Verdacht, dass es ihnen bei eventueller Beteiligung an fortschrittlichen Aktionen nur darum ginge, dort vor allem Stimmen zu fangen, um wiedergewählt zu werden. DIE LINKE muss sich deswegen überlegen, nicht unbedingt ob sie in Parlamenten mitarbeiten will, sondern wie sie dies mit Glaubwürdigkeit tun kann. Ja, sie muss sich entscheiden, ob sie den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit nicht woanders platzieren sollte als in den Parlamenten.
Es ist gewiss ein erschreckender Beweis für die Hinnahme der systemischen Korruptheit der Parlamente, dass die Öffentlichkeit sich jüngst sogar für den eines Diebstahls und des lügnerischen Betruges überführten Ministers demonstrierend einsetzte. Dieser Minister, Freiherr zu Guttenberg nennt er sich, hatte nicht bloß, zum ersten, Betrug begangen – er stahl geistiges Eigentum en gros -, bestritt das, zum zweiten, lügnerisch über eine Woche lang, musste danach aber wegen überwältigender Evidenz diesen Betrug gestehen, verstand es aber am Ende auch noch, sein unvermeidbar gewordenes Entlassungsersuchen als das Martyrium seines Lebens darzustellen („die schwerste Entscheidung meines Lebens“). Von seinesgleichen wurde er nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen seiner Taten, in allen Ehren mit dem „Großen Zapfenstreich“ verabschiedet. Dieses jüngste Beispiel für Kreativität im Uminterpretieren von Sachverhalten – siehe oben die Charakterisierung dieser modernen Fähigkeit – zeigt uns im Klartext nur die immer schon existierende Notwendigkeit kapitalistischer Ideologieproduktion an, jetzt allerdings in globalkapitalistischer Variante: Wer stiehlt, muss lügen, und wer lügt, hat etwas davon. Das mag ja so „laufen“, aber nur für den Einzelnen und nur für den Augenblick. Auf die Dauer jedoch kann das angesichts der jetzigen Sachlage – „ver-rücktes“ Verhältnis zur Natur – so nicht mehr weitergehen. Und das ist nicht einmal eine moralische Forderung, sondern eine ästhetische, weil mit sich selbst, mit anderen und den Dingen ins Reine zu kommen, in der Natur des Menschen, also sinnlich, gegründet ist. Diesem Gedanken wollen wir jetzt nachgehen, nicht zuletzt im Schlaglicht des verlogenen Freiherrn zu Guttenberg. Bedenken wir doch wie sehr ihm sein Gel durchsetztes Haar und forciert flottes Auftreten, also seine schaustellerische Optik, zum Rang des populärsten Politikers der BRD verholfen haben.
Beginnen wir beim Erwähnen trügerischer Ästhetik mit den „Diskussionen“ im Bundestag und in anderen Parlamenten. „Atmen“ sie etwa nicht Verlogenheit ? Die dargebotene Emotionalität, die Sprechweise, die Körperhaltung der Redner und etliche Erscheinungsformen mehr sind angesichts des formell oder informell praktizierten Fraktionszwanges ohne jede Glaubwürdigkeit. Man fragt sich: Wozu das Theater ? Abstimmungsergebnisse liegen doch schon vorher fest. Zwar tun die Medien, ungewollt, ihr Möglichstes dieses Spektakel zu zeigen, aber müsste DIE LINKE sich nicht in einer solchen Weise an dem Betrieb in den Parlamenten beteiligen, dass sichtbar wird, was sie von diesen Machenschaften und Schauspielereien hält ? Dies würde in der Öffentlichkeit seine Wirkung nicht verfehlen, jedenfalls nicht bei Menschen, die noch klar sehen können. Dem müssten seitens der LINKEN allerdings auch noch andere, in der politischen Landschaft heute ungewöhnliche Verhaltensweisen zugesellt werden, vor allem dort, wo es um direkten Kontakt mit dem Volke geht.
Hier ist zu allererst an die Art und Weise der Kandidatenaufstellung für Wahlen zu denken. Angesichts der Verfilzung, die in den Systemparteien herrscht und die sich dadurch immer wieder regeneriert, dass Wahlkandidaten in den Parteien „von oben herunter“ bestimmt werden, weil sie sich dort eifrig angepasst haben, würde es für die Öffentlichkeit beeindruckend sein, wenn DIE LINKE ihre Kandidaten von allen Parteimitgliedern in den Wahlkreisen selbst bestimmen ließe. Für solche Kandidaten wäre die Ochsentour durch die Parteigremien überflüssig, und DIE LINKE würde überrascht sein, welche und wie viele fortschrittliche Menschen dann zu ihr stießen. Dies vor allem auch dann, wenn die Partei als undogmatisch der Zukunft zugewandt sichtbar wäre. Notwendig und weitgehend neu wäre es dann auch, wenn so gefundene Abgeordnete ihre Wahlkreisbüros ständig für das Volk offen hielten. Wie viel mehr würde dann die Stimme des Volkes für die Partei DIE LINKEN vernehmbar sein.
Damit wäre dann ein weiteres geradezu unabdingbares Erfordernis zukunftseröffnender Demokratie erfüllt, nämlich das unvoreingenommenen Zuhören dem Volke gegenüber. Dieses Erfordernis ergibt sich aus den oben skizzierten Beispielen. Soziale Konflikte entstehen nicht nur innerhalb lokaler Grenzen, sondern variieren ihrer Form und Sachlage nach oft beträchtlich voneinander. Sie brechen zudem an kaum vorhersagbaren Stellen im sozialen Gefüge auf. Dies mögen, wie oben gesehen, Bahnhöfe oder Betriebe sein, aber auch Schulen, Altenheime, Krankenhäuser, Bauvorhaben, AKWs, Transporte und Lagerung nuklearen Abfalls etc., etc. Überall dort herrschen spezifische Bedingungen, die nur dann scheinbar „klar“ sind, wenn sie von einer Ideologie her schablonisiert werden. Aber aus dem Volk heraus bestimmte und ihnen täglich verbundene Parlamentarier könnten sich, eben nicht ideologisch gebunden und dadurch beschränkt, durch Zuhören und Zusehen sachlich-konkret, also echte Klarheit verschaffen. Verlauf und Resultat dieses Zugewandtseins und dann auch des gemeinsamen Beratens – nicht des Besserwissens ! – sind natürlich nicht im Voraus wissbar. Verstehen verlangt hier die eben schon zitierte Flexibilität, jetzt aber eine solche, die insofern die globalkapitalistisch eingeübte überwindet, als sie aus den „Sachen“ heraus und von den Menschen her Verstehen übt (20). Partikularinteressen werden sich dann, wieder sind die obigen Fälle Beispiele, oft überraschend leicht greifen und beim Namen nennen lassen. Vernetzungen in andere Gesellschaftsbereiche hinein werden sich dann aus konkreten Sachverbindungen heraus ergeben – und nicht entlang ideologischer Leitplanken. In dieser Richtung liegen die Chancen dafür, dass DIE LINKE als ein Verbund von Menschen wahrgenommen wird, die die moderne „Ver-rücktheit“ flexibler Umdeutungen und die dahinter sich versteckender Klasseninteressen aufzudecken und „aufzuheben“ vermag.
In den zunächst punktuellen, aber zukunftsweisenden Aktionen entsteht – siehe die oben aufgeführten Beispiele – schon bald ein stärker und stärker werdendes Zusammengehörigkeitsgefühl. Miteinander zu sein erweist sich als Erlebnis tiefer, oft längst vergessener Befriedigung und führt zu neuen Formen des Miteinanderumgehens. Vernetzungen wiesen hier und da schon über betriebliche oder örtlich begrenzte Zusammenhänge hinaus und überstiegen „Branchenräte“ oder „Arbeitskreise Alternativer Produktion“. Neues und neue Wege wurden sogar in Bereichen wie „… Erziehungsarbeit, Kulturarbeit, Bildungsarbeit oder Pflegearbeit“ gesucht (21). Dies zielte auf Beteiligung der dort Tätigen an einem reicher werdenden Leben. Es sollte „ein Anfang sein, um viel Zeit zum Leben zu gewinnen“ (22), sagt Stephan Krull, nachdem er zusammen mit anderen gelernt hat, „was man“ über wüste Produktion und Konsumption hinaus „Leben nennen“ kann.
Wie hier mehr als einmal betont, können Form und Richtung zukunftsweisender Bemühungen nicht am Schreibtisch ausgedacht werden. Schon gar nicht sind die ästhetisch-künstlerischen Manifestationen eines neu entstehenden gesellschaftlichen Lebens vorhersagbar. Hier und da kündigen sie sich schon in neuen Demonstrationsformen, in Graffiti und auch Liedern an. Es wird sich aber erst allmählich zeigen, welche Art von Kunst, Erziehung, Wissenschaft – gerade auch die von der Natur ! – , Ingenieurswesen und Verkehrsausbau sich in einer wieder vom Volk in Freiheit bestimmten Gesellschaft entwickeln wird. Aber eines scheint trotzdem schon jetzt zu gelten: Sich bloß für den „Umwelt“-schutz mit moralisierender Rede einzusetzen fördert allenfalls die Karriere im dann weiterhin dominanten „ver-rückten“ System. Wer kann das schon wollen?
Anmerkungen:

  1. Dies war auch Marx klar. Siehe Marx, Karl: „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“, Frankfurt o. J., pp. 30f.; siehe hierzu auch Sixel, Friedrich W.: „Understanding Marx“, New York, London, 1995, pp. 97ff, 105.
  2. Siehe hierzu besonders Adams, Richard N.: „Energy & Structure“, Austin (Texas), London 1975; ders.: „The Eighth Day“, Austin (Texas) 1988; siehe hierzu auch Sixel, Friedrich W.: „Die Natur in unserer Kultur“, Würzburg 2030, pp. 30, 115ff.
  3. Goethe, Johann Wolfgang v.: „Newtons Persönlichkeit“, in: „Farbenlehre“, Bd. III, Stuttgart 1988, p. 232. Siehe auch Sixel, Friedrich W.: „Die Natur in unserer Kultur“, Würzburg 2003, pp. 107ff.
  4. Diese begriffliche Unterscheidung wird oft verwischt. Goethe teilt sie in kaum untersuchter Weise mit Martin Luther; siehe Luther, Martin: „Dass der freie Wille nichts sei“, München 1954.
  5. 5.- Goethe, J. W. v.: „Farbenlehre“, Bd. I, Stuttgart 1988, p. 55.
  6. Zu der Unterscheidung zwischen den Begriffspaaren wahr/falsch und zutreffend/unzutreffend siehe Sixel, F. W.: „Die Natur in unserer Kultur“, Würzburg 2003, pp.140f, 177f. In der Sache übereinstimmend, aber in anderer Terminologie siehe Habermas, Jürgen: „Erkenntnis und Interesse“, Frankfurt (Main) 1973, pp. 19ff; und ders.: „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“, Frankfurt (Main) 1976, pp. 338ff.
  7. Siehe hierzu Sixel, F. W.: „Die Natur in unserer Kultur“, Würzburg 2003, vor allem pp. 140ff und die dort angegebene Literatur.
  8. Es würde zu weit führen, hier darzulegen, wie und warum Goethe Newton von seinem Pluralismus ausschließt; siehe hierzu Sixel, op. cit., vor allem pp. 311ff.
  9. Siehe hierzu Anmerkung 6.
  10. Siehe Sixel, op. cit., pp. 82ff, 96ff und die dort angegebene Literatur.
  11. Die weitgehende Eliminierung von Elend in den industriekapitalistischen Ländern ist durch den „Export“ von Armut in die Kolonien gelungen. Im Globalkapitalismus sind Hunger und Elend wieder in die „reichen“ Länder zurückgekehrt und haben dort, neben anderen Umständen, eine potentiell revolutionäre Situation geschaffen.
  12. Dieser Gedanke liegt Marx’ gesamtem Werk zugrunde und geht auf seine Feuerbach-Thesen und seine Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte von 1844 zurück. Siehe Marx, Karl: „Frühe Schriften“, Bd. I, Darmstadt 1971, pp. 506ff.
  13. Der Vorschlag, Geist als mentales Kapital zu verstehen, ist nicht selten gemacht worden, z. B. von Franck, Georg: „Mentaler Kapitalismus“, München, Wien 2005 und auch von Bourdieu, Pierre: „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital“, in: Soziale Welt, Sonderband Göttingen 1983. Zu diesem Thema scheint aber noch etliches an Arbeit vonnöten zu sein.
  14. Wainwright, Hilary & Bowman, Andrew: „Lucas Combine, Erfahrungen mit betrieblicher Konversion“, in: Luxemburg, Nr. 3, 2010, pp. 80 – 85.
  15. Ibid., besonders p. 85.
  16. Röttger, Bernd: „Konversion ? Strategieprobleme beim Umbau kapitalistischer Produktion“, in: Luxemburg, Nr. 3, 2010, pp. 70 –75.
  17. Krull, Stephan: „Radikale Arbeitszeitverkürzung. Zwischen Traum und Albtraum“, in: Luxemburg, Nr. 3, 2010, pp. 94 – 97.
  18. Arnim, Hans Herbert v.: „Das System. Die Machenschaften der Macht“, München 2001, passim.
  19. Bülow, Marco: „Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter“, Berlin 2010, passim. Ders.: „Um Volkes Willen“ in: Der Freitag“, Nr. 4, 27. Januar 2011, p. 11.
  20. Sehr aufschlussreich ist hierzu Marx, Karl: „Grundrisse“, Frankfurt (Main), o. J.. „Einleitung“, insbesondere „Die Methode der Politischen Ökonomie“, pp. 21ff.
  21. Krull, op. cit., p. 95.
  22. Ders., p. 97.