Kann die Linke Wachstum wollen?

Elmar Altvater

Die Arbeitsgesellschaft verlangt eine kleine Kulturrevolution: Arbeitszeitverkürzung
Die Partei DIE LINKE hat mit der Debatte um ihr Grundsatzprogramm begonnen, das sie im Herbst 2011 beschließen will. Neues Deutschland begleitet die Debatte – in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung – mit einer Artikelserie. Nachdem zum Auftakt sechs »Offene Fragen« behandelt wurden, geht es nun quer durch die Themen. Heute: Der Politikwissenschaftler Elmar Altvater sieht die kapitalistische Gesellschaft in einer Wachstumsfalle. Ein linkes Projekt müsse sich demgegenüber im Einklang mit der Natur befinden und die Grenzen des Wachstums anerkennen. Ein zentraler Hebel dabei wäre eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine grundlegende Reorganisation von fremdbestimmter Arbeit, Freizeit und Gemeinwesenarbeit. Zu den jüngsten Buchpublikationen des Autors gehören »Krisen-Analysen« (145 Seiten, 14,80 Euro) und »Staat und Krise« (208 Seiten, 16 Euro).
Gewerkschafter und linke Ökologen, »Modernisierer« und »Traditionslinke«, West-Linke mit sozialdemokratischer oder grüner und Ost-Linke mit DDR-Vergangenheit werden sich nicht leicht über ein zentrales Thema bei der Entwicklung strategischer Optionen zur Bewältigung der vielfachen Krisen verständigen können. Ist eine kapitalistische Wirtschaft ohne Wachstum vorstellbar? Hat expansive Kapitalakkumulation auf einem endlichen Planeten Erde eine Zukunft? Kann eine post-kapitalistische Wirtschaft, kann der im Entwurf des Grundsatzprogramms angesprochene »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ohne Wachstum auskommen? Kurz: Kann die Linke Wachstum wollen?
Mit einer wachsenden Wirtschaft scheinen viele der drängenden Probleme der Menschheit lösbar. Die Wirtschaft könnte aus den immensen Schulden, die die Staaten zur Rettung der Finanzvermögen derzeit machen, herauswachsen. Auf expandierenden Märkten können mehr Waren abgesetzt und zu deren Produktion neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Kampf gegen Armut und Hunger wäre vielleicht doch noch erfolgreich und die Millenniums-Entwicklungsziele der UNO aus dem Jahr 2000 wären vielleicht zu erreichen. So wichtig ist Wachstum, dass die FAZ in einem Artikel am 25. März 2010 bettelt: »Ach, gäbe es doch nur ein kräftiges Wirtschaftswachstum!«

Sinkende Wachstumsraten

Doch entgegen aller Wachstumsbeschwörung sind die Wachstumsraten überall in der Welt rückläufig. In Deutschland wuchs das Bruttoinlandsprodukt in den 1950er Jahren mit mehr als 8 Prozent pro Jahr. Die Zuwachsraten halbierten sich im nächsten Jahrzehnt auf etwas mehr als 4 Prozent, um in den folgenden Jahrzehnten nochmals auf fast die Hälfte, nämlich 2,6 Prozent abzusacken. In den 1990er Jahren waren es dann nur noch die Hälfte von der Hälfte, nämlich 1,2 Prozent und die werden im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit Sicherheit nicht erreicht. Eine deutsche Krankheit oder Symptom der »Eurosklerose«? Nein, für die in der längerfristigen Perspektive tendenziell abnehmenden Wachstumsraten der Wirtschaft gibt es eine Reihe von nachvollziehbaren Gründen.
Einige sind trivial. Allein die Aufrechterhaltung von konstanten Wachstumsraten verlangt zusammen mit der Niveausteigerung immer höhere absolute Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts. Das gilt auch für den Verbrauch von Ressourcen und für die Emissionen von Schadstoffen. Wenn die globalen Ölressourcen gerade angezapft worden sind, ist die Steigerung der Ölförderung problemlos möglich, weil ja durch Exploration immer neue Reserven hinzukommen. Jenseits eines Höhepunktes (der als »Peak Oil« diskutiert wird) jedoch gehen die Reserven nach und nach zur Neige. Neue Ölfelder werden nicht mehr gefunden. Die Erde ist bereits gelöchert wie ein Schweizer Käse. Und die Förderung von so genanntem »nicht-konventionellem« Öl, z. B. aus der Tiefsee, ist teuer und extrem gefährlich. Das beweist die Havarie der Ölplattform Deepsea Horizon vor der Südküste der USA. Dann entsteht Wachstum durch die Aufräumarbeiten, aber ein überzeugender Beleg für mehr Wohlstand ist das nicht.
Wachstum ist also an den Grenzen des Umweltraums kein Rezept ohne gefährliche Nebenwirkungen. Können die in Kauf genommen werden, weil doch Arbeitsplätze entstehen? Unter kapitalistischen Verhältnissen werden Arbeitskräfte nur eingestellt, wenn mit ihnen Gewinn gemacht werden kann. Die Produkte ihrer Arbeit müssen als Waren auf globalen Märkten konkurrenzfähig sein. Preis und Qualität müssen stimmen und die Nachfrage muss da sein. Daher kommt es immer auch auf die Arbeitsproduktivität und die Einkommensverteilung an, wenn die Beschäftigung gesteigert werden soll.
Die Erhöhung der Produktivität der Arbeit ihrerseits ist ein höchst komplexer Prozess. Er verlangt nicht nur technischen Fortschritt, sondern Bildung und Ausbildung der Arbeitskräfte, neue soziale und organisatorische Arrangements, entsprechende politische Rahmenbedingungen, auch kulturelle Veränderungen. Der Markt ist dazu wenig geeignet, da Marktakteure kurzsichtig und nicht weitsichtig sind und sich von kurzfristigen Profiterwartungen treiben und nicht von langfristigen Entwicklungsperspektiven leiten lassen.
Auch sind ökonomische Abschreibungen veralteter und Investitionen in neue Anlagen notwendig. In aller Regel steigt die Arbeitsproduktivität, aber zugleich auch die Kapitalintensität (Kapitaleinsatz je Arbeitskraft) – oder in der Begrifflichkeit von Karl Marx: die organische Zusammensetzung des Kapitals. Daher kann mit der Steigerung der Produktivität die Wachstumsrate der Wirtschaft angehoben werden, zumal dann, wenn die Produktion konkurrenzfähig ist. Doch die steigende organische Kapitalzusammensetzung lässt die Profitrate sinken. Wenn dies dann dazu führt, dass weniger investiert wird, nimmt die Akkumulationsrate ab. Liquides Kapital wird dann auf liberalisierten Kapitalmärkten eher im Finanzsektor als in der realen Wirtschaft investiert. Dann gehen im weiteren Verlauf der Entwicklung die realen Überschüsse zurück, während die finanziellen Forderungen steigen. Das ist eine Konstellation, in der die Finanzkrise nahezu unvermeidlich wird, wie die Erfahrung der Gegenwart lehrt.
Die Erhöhung der Produktivität der Arbeit hat die Steigerung des »Wohlstands der Nationen« zur Folge. Doch die unvermeidliche Kehrseite ist die Freisetzung von Arbeitskräften. David Ricardo, ein Klassiker der Politischen Ökonomie, bezeichnet die Freigesetzten als »Überflussbevölkerung« (»redundant population«). Das sind die prekär Beschäftigten, die Arbeitslosen und informell Arbeitenden unserer Tage. Als Folge des Produktivitätsfortschritts ist von allem zu viel da, die Kaufkraft hält nicht mit und die Zahl der normal beschäftigten Arbeitskräfte auch nicht.

Verkürzung der Arbeitszeit

Die Annahme, dass die »Überflussbevölkerung« durch Wachstum (durch eine Ausdehnung des Arbeitsvolumens) wieder beschäftigt werden könne, hatte schon Marx in seiner Auseinandersetzung mit der »Kompensationstheorie« kritisiert. Denn die Kapitalisten wollen bezahlte Arbeit einsparen und daher muss der Freisetzungseffekt größer sein als die Ausweitung der Produktion. Die volle Kompensation der Freisetzung würde den Zweck, nämlich Arbeitskosten zu senken, hintertreiben.
Heute ist anders als im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts eine andere »Kompensation« in der Diskussion, und das ist die Arbeitszeitverkürzung. Tatsächlich ist diese die einzige Möglichkeit, um das Anwachsen der »Überflussbevölkerung« als Folge des Produktivitätsfortschritts zu vermeiden. Die Arbeitszeitverkürzung in der Arbeitsgesellschaft verlangt eine kleine Kulturrevolution: statt Wachstum die Reduktion der Arbeitszeit, also die Transformation von fremdbestimmten Zeiten in Eigenzeit, eine Reorganisation von Arbeit, die Ausdehnung von Freizeit und Gemeinwesenarbeit, eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses zur äußeren und zur inneren Natur.
Gleichzeitig aber ist von allem zu wenig da, vor allem zu geringe Kaufkraft. Der Ökonom Joseph A. Schumpeter hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts ironisch darauf hingewiesen, dass im modernen Kapitalismus nicht für Königinnen, sondern für den Bedarf von Arbeiterinnen produziert werde. Damit deren Bedarf sich in kaufkräftige Nachfrage verwandelt, brauchen sie entsprechende Einkommen, die aber von Kapital und konservativer Regierung als »Arbeitskosten« gekappt werden.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass wirtschaftliches Wachstum noch niemals in der Geschichte des kapitalistischen Systems eine dauerhafte Steigerung der Beschäftigung oder gar Vollbeschäftigung gesichert hat. Ausnahmen waren die Jahre der Wirtschaftswunder und der Aufholjagd einiger Schwellenländer.

Der »ökologische Fußabdruck«

Jede und jeder weiß, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen, dass die Natur zwar eine Wachstumsgrenze kennt, aber weder Schuldenbremse noch gesetzlich verordnete Wachstumsbeschleunigung. Die schwarz-gelben Vorhaben sind widernatürlich und schon deshalb zum Scheitern verurteilt. Ein linkes Projekt, dies wäre die Konsequenz, muss anders aussehen, es muss sich im Einklang mit der Natur befinden und die Grenzen des Wachstums, von denen spätestens seit der Publikation des ersten Berichts des Club of Rome zu Beginn der 1970er Jahre die Rede ist, anerkennen.
Die natürlichen Grenzen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses geraten ins Blickfeld, wenn wir den von Marx so genannten »Springpunkt« jeder politisch-ökonomischen Analyse beachten, den Doppelcharakter der Arbeit, der Produktion, der Waren, ja allen Wirtschaftens. Wirtschaften ist Wertbildung und Verwertung, aber auch Transformation von Stoffen und Energie, Naturverbrauch. Der lässt sich messen. Studien über den »ökologischen Fußabdruck« oder über den genutzten Umweltraum zeigen unmissverständlich, dass wir schon heute mehr Ressourcen verbrauchen und Ökosysteme mit Schadstoffen belasten, als der Planet Erde auf Dauer, also auch für die nachfolgenden Generationen, darzubieten hat. Insbesondere in den reichen Industrieländern leben wir ökologisch weit über unsere Verhältnisse. Unser Wohlstand ist der absehbare Missstand nachfolgender Generationen.
Einige Schlaumeier meinen nun, dass zur Vermeidung der Negativeffekte der wachsenden Wirtschaft hohe Umweltschutz-Investitionen anstehen und schon deshalb Wachstum unvermeidlich sei. Investitionen erhöhen schließlich den »Kapitalstock« und die laufenden Einkommen. Das ist richtig. Doch haben die Investitionen, wenn sie erfolgreich sind, eine Absenkung des Stoff- und Energiedurchsatzes in Produktion und Konsumtion zur Folge, und dann könnte monetäres Wachstum nur noch zustande kommen, wenn der Geldwert inflationär aufgebläht wird.
Andere meinen, dass das Wachstum nicht materiell, sondern virtuell sein könne. In einer post-materialistischen Dienstleistungsökonomie sei der Naturverbrauch gering. Doch mache man sich keine Illusionen. Die meisten »post-materiellen« Dienste lösen erhebliche Materialströme und den dazugehörigen Energieverbrauch aus. Man kann zwar in der Internet-Apotheke per Mausklick Arzneien bestellen, aber dann müssen diese doch zum Kunden transportiert werden, und dabei verlängern sich die Wege oftmals beträchtlich. Zwar werden in Bruchteilen von Sekunden Milliardenbeträge um die Erde geschickt. Doch die dabei virtuell gemachten Spekulationsgewinne können sich nur materialisieren, wenn ein Überschuss produziert wird – ganz materiell durch Wachstum.
Wir befinden uns also in der Wachstumsfalle. Einerseits ist der Wachstumszwang im modernen Kapitalismus präsent. Andererseits wissen wir von den natürlichen Grenzen des Wachstums. Die Wachstumswirtschaft kann nicht auf Dauer fortgesetzt werden. Dieser »ehernen« Tatsache muss eine linke Partei Rechnung tragen und akzeptieren, dass Politik an den Grenzen des Umweltraums schwieriger zu gestalten ist als weit davon entfernt.
Das zeigt sich auch in der gegenwärtigen Krise. Noch vor 80 Jahren war es möglich, in einem »New Deal« wie in den USA mit Investitionen Wachstum anzuregen und Arbeitsplätze zu schaffen, auch wenn weniger ein »welfare capitalism« als ein »warfare capitalism« das Ergebnis war. Die heutige Finanz- und Wirtschaftskrise hat mahnende Begleiter, die vor acht Jahrzehnten noch nicht dabei waren: die Energie-, Ernährungs- und Klimakrise. Ein politisches Projekt gegen die Krise kann nicht auf Wachstum setzen, wenn dadurch Energiekonflikte geschürt, die Klimakrise zugespitzt und die Ernährung von Menschen gefährdet werden.
Die LINKE kann also nicht einfach »Wachstum wollen«. Sie kann aber auch nicht ratlos an den Grenzen des Wachstums verharren. Die Grenzen, die uns die Natur setzt, müssen respektiert werden. Dann ist es aber zwingend notwendig, die Gesellschaft so umzugestalten, dass in diesen Grenzen das gute Leben für alle Menschen möglich ist.

Neues Deutschland, 14.06.2010
(mit freundlicher Genehmigung des Autors)