„TIERE ESSEN“ und das Linke Parteiprogramm

Rezension von Thomas Reuter

Auf dem Klappentext des nicht nur farblich durch und durch grünen Bestsellers [1] steht: „Nichts ist so unwiderstehlich, wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Ja, dieses Buch ist aktuell, modern und zugleich für alle Zukunft der Menschheit gültig und wichtig. Im Gegensatz zur oft kolportierten Ansicht, dass „TIERE ESSEN“  zum Vegetarismus auffordert, tut es genau das nicht. Es denkt über das Menschsein nach. Es will keinen neuen Menschen kreieren, sondern lässt uns das sein, was wir sind. Und wird doch jeden, der dieses Buch liest, verändern. „Die Frage, ob wir Tiere essen, entspringt letztlich unserem Streben nach einem Ideal, das wir, vielleicht fälschlicherweise, ‚Mensch sein‘ nennen.“ (S. 303)

Jonathan Safran Foer, amerikanischer, mit koscherer Ernährung aufgewachsener Jude, lernt die heute weltweit übliche industrielle Tierproduktion als absoluter Laie gemeinsam mit dem Leser kennen. Ein Großteil der Tarantel-Leser dürfte Interesse an der Land- und Forstwirtschaft, Tierproduktion, Biologie oder Veterinärmedizin haben und mehr oder weniger gut wissen können, welche Realität hier beschrieben wird. Aber er spricht Wahrheiten aus, die gerade Fachleute sehr gründlich verdrängen müssen, um überhaupt weiter in der Branche arbeiten zu können:

Die industrielle Tierproduktion überall auf der Welt, nicht nur in den USA, ist technologiebedingt routinemäßige Tierquälerei, leider auch im Ökobereich. Ein Vorwort und ein umfangreicher Anhang beschreiben, dass es in Deutschland nur im Detail anders, aber überhaupt nicht besser als in den USA ist.

Tierschutzgesetze gibt es für Landwirtschaftliche Nutztiere nur theoretisch, in der Praxis sind diese durch Ausnahmeregelungen für Eier- und Fleischgeflügel, Schweine, Kaninchen; Pelztiere von der Geburt bis zum Tod, für Wiederkäuer und auch Pferde vom Transport bis zum Tod nicht gültig oder werden nicht umgesetzt.

Der beständige Umgang mit derart leidenden Kreaturen macht aus ursprünglich tierlieben Menschen gleichgültige oder brutale Sadisten. Mit den Zeugenaussagen und Selbstanklagen zu täglich üblichem Gräueltaten der bedauernswerten Tierproduzenten hätte er ein weiteres Buch füllen können, schreibt Foer. Die Arbeit wird oft nicht von Fachleuten, sondern von unterqualifizierten Hilfs- und Schwarzarbeitern für Spottlöhne verrichtet. Industrielle Tierproduktion ist also auch routinemäßige Menschenschinderei. Ein Aspekt, der selbst Leser, denen Tiere eher fern sind, sehr berühren dürfte.

Die von diesem Tierhaltungssystem für dieses System hervorgebrachten Karikaturen der ursprünglichen Haustierform sind außerhalb dieser Systeme nicht mehr dauerhaft lebensfähig. Diese Rassen und Hybridlinien haben nicht mal mehr Namen, sondern nur noch Nummern wie zum Beispiel ISA 257. An solchen Details erkennt man die Kulturlosigkeit der Tierindustrie. (Anm. des Verf.). Selbst im Haltungssystem müssen sie mit für die Verbraucher, die Umwelt und andere Tiere hoch bedenklichen Medikamenten und Zusatzstoffen vor Infektionen geschützt oder sogar ruhig gestellt werden. Dadurch drohen Pandemische Seuchen für Tier und Mensch.

Die industrielle Schlachtung, besonders von Geflügel, ist hygienisch fragwürdig.  Gemeinsam mit der Medikamentenbelastung kann diese Industrie nur mangelhafte Ware hervorbringen.
Die Größe der Haltungs- und Schlachtbetriebe verursacht Umweltschäden, die den Tarantel-Lesern bekannt sind.

All das geschieht mit fühlenden Wesen, die Angst und Schmerz, Zufriedenheit und Freude empfinden. Jedes dieser Wesen erlebt die Agrarhölle jeden Tag ganz für sich selbst. Dafür gibt es seit mindestens 50 Jahren wissenschaftliche Beweise.

Die Produkte dieser Industrie sind zwar billig, aber nicht preiswert, ihren Preis nicht wert. Die Riesengewinne der Agrarindustrie werden privat eingestrichen. Folgekosten an Umwelt, Gesundheitssystem, für Futtermittel und Energie werden der Gesellschaft in Rechnung gestellt. Ein gutes Beispiel dafür, dass privater Geldgewinn als einziges Wirtschaftsziel der Gesellschaft schadet.

All diese Dinge werden dem Kunden, dem Normalbürger mit Hilfe von Betriebsgeheimnisskrämerei, Gesetzen, Lobbyismus und den Medien systematisch verschwiegen. Betriebsbesichtigungen durch Laien werden verhindert. Die Verfilzung zwischen Agrar- und Pharmaindustrie, Politik und Medien wird von Foer beeindruckend dargestellt. Kontrollen werden angekündigt, von der Branche selbst durchgeführt und regelmäßig geschönt. Der Staat hat alle ursprünglichen Kontrollmechanismen selbst ausgehebelt.

Foer stellt außerdem die noch unmenschlicheren Verhältnisse in der Fischindustrie, sowohl bei Wildfang als bei Aquakultur, dar. Jeder Fisch in jeder Dose und auf jedem Teller der Welt hat einen unvorstellbar grausamen Tod gehabt,“ seien Sie gewiss, er hat.“ Eine Wahrheit, die bei kurzem Nachdenken offensichtlich ist, aber noch nie ausgesprochen wurde.

Sein Fazit auf Seite 302 von 392 Seiten der deutschen Ausgabe:

„Das System der Massentierhaltung wird eines Tages an seiner absurden wirtschaftlichen Praxis zugrunde gehen. Es ist absolut unhaltbar. Irgendwann wird die Erde Massentierhaltungsbetriebe abschütteln wie ein Hund Flöhe; die Frage ist nur, ob wir dann mit abgeschüttelt werden.“

Tierfreundlichere Haltungs- und Schlachtungstechnologien nehmen ebenfalls breiten Raum ein, ihre Chancen und Risiken werden dargestellt. In den USA sind sie leider offensichtlich nur noch rudimentär vorhanden. Das macht für Deutschland etwas mehr Hoffnung. Aber: auch ein Biohähnchen wurde auch in Deutschland ziemlich sicher sein ganzes Leben gequält. Denn Parameter der Biohaltung ist eben nicht der Tierschutz sondern der Verbraucherschutz. Bessere Lebensbedingungen für die Öko-Tiere fallen eher zufällig ab, sind aber nicht Ziel der heutigen Biolandwirtschaft…. Das muss sich ändern. Im Buch kommt ein Veganer zu Wort, der fahrbare Schlachthöfe konstruiert, die zum Tierproduktionsbetrieb transportiert werden. Eine großartige Idee.

Foer zeigt Alternativen, eine davon ist die Vegetarische Ernährung. Eine andere die bewusstere Ernährung. Hier liegt das eigentlich Neue dieses großartigen Buches. Denn er zeigt Verständnis für jede Ernährungsweise, ohne zu verurteilen. Denn “Essen ist nicht rational. Essen ist Kultur, Gewohnheit und Identität…..“ Durch solche Sätze verbündet das Werk, wo andere Bücher gnadenlos entzweien.

Wie die meisten Denker unserer neoliberalen Welt erlegt Foer dem Verbraucher die Verantwortung für das System auf. Da er das System Massentierproduktion aber umfassend schildert, sind dessen Schwachstellen und Paradoxien zumindest erkennbar. So dass politische, nicht nur private Lösungsansätze zu erahnen sind.

Viele Argumente dieses Buches untermauern Umwelt- und Verbraucherschutz. Sein größtes Verdienst ist es aber, diese bekannten Themen mit einem von den meisten, auch linken Menschen belächelten, und doch uralten Anliegen zu verbinden: der Solidarität mit den Tieren.

Unsere Partei berät gerade ihr Programm für die nächsten 10-15 Jahre. Zum Tierschutz steht im Entwurf bisher, dass er konsequent umgesetzt werden muss. Das ist an Dürftigkeit kaum zu unterbieten. Dafür gibt es tief sitzende historische und aktuell-politische Ursachen, die im Rahmen der Programmdiskussion geklärt werden sollten. Dazu wird das großartige, nicht vergnügliche, aber gut lesbare, spannende Buch von Foer eine Hilfe sein.

Thomas Reuter (Dipl.-Ing. agr.)
Januar 2011


[1↑] Jonathan Safran Foer, „TIERE ESSEN“, Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-04044-9