Wohlstand und Wachstum sind gegenläufig

Am 31.12.2012 endete das Projekt der Freien Universität Berlin/ Forschungszentrum für Umweltpolitik Weiterentwicklung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie – Vorschlag für einen nationalen Wohlfahrtsindex. In diesem wurde die Entwicklung des „Nationalen Wohlfahrtsindex“ (NWI) aus dem Jahre 2008 und des Bruttonationaleinkommens (BNE) untersucht.

In der Pressemitteilung1 der FUB heißt es zu den Mängeln des Indikators Bruttoinlandsprodukt”:

“… das BIP weist … einige Schwächen auf. Zum einen werden viele Umweltschäden gänzlich ausgeblendet.

  • Zum anderen werden Maßnahmen gegen Umweltbelastungen als positiv verbucht, obwohl es kompensatorische Kosten sind, die noch keine Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt bewirken, wie Altlastensanierung und Ausgleichsmaßnahmen für Naturverbrauch.
  • Ähnliches gilt im sozialen Bereich, etwa die Ausgaben für Drogen,Alkohol und Tabak, welche Folgekosten in Höhe von rund 56 Milliarden Euro jährlich nach sich ziehen.
  • Außerdem fließen in das BIP auch Konsumausgaben und Investitionen ein, die nur über Staatsschulden möglich werden, jedoch gleichzeitig die finanzielle Handlungsfähigkeit der Länder nachhaltig untergraben.
  • Schließlich werden Arbeitsbereiche in das BIP nicht einbezogen,welche die Wohlfahrt steigern, vor allem ehrenamtliche Arbeit und auch Hausarbeit.”

Wie wird statt dessen der NWI berechnet?

Dazu heißt es:

“Der NWI stellt eine monetäre Kenngröße dar, dass heißt, alle einbezogenen Komponenten liegen bewertet in Euro als jährliche Größe vor. Insgesamt umfasst der NWI in seiner Grundvariante 19 Komponenten.

  • Die Berechnung geht von der Basisgröße„Privater Verbrauch“ aus. Dieser Ausgangspunkt beruht auf der Annahme, dass der Private Verbrauch – der Konsum von Gütern und Dienstleistungen durch die Haushalte – einen positiven Nutzen stiftet und damit zur Wohlfahrt der Menschen beiträgt.
  • Da ein zusätzliches Einkommen für einen armen Haushalt eine höhere zusätzliche Wohlfahrt stiftet als für einen reichen Haushalt, wird der Private Verbrauch mit der Einkommensverteilung gewichtet. Je ungleicher verteilt das Einkommen einer Gesellschaft ist, desto niedriger ist – unter sonst gleichen Bedingungen – der NWI.
  • Außerdem wird die nicht über den Markt bezahlte Wertschöpfung durch Hausarbeit und Ehrenamt einbezogen, was im BIP/BNE nicht geschieht.

Sechs Komponenten bilden zusätzliche soziale Faktoren ab,

  • wobei einerseits Wohlfahrt stiftende Ausgaben des Staates für Gesundheit und Bildung addiert,
  • andererseits Kosten etwa von Kriminalität oder Verkehrsunfällen abgezogen werden.

Ökologische Faktoren werden durch neun Komponenten (berücksichtigt):

  • Ausgaben zur Kompensation von Umweltschäden,
  • Schadenkosten aufgrund unterschiedlicher Umweltbelastungen und
  • Ersatzkosten für den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen.

Eine zusätzlich ausgewiesene Variante des NWI, die aber noch nicht mit empirischen Daten unterlegt werden konnte, bezieht darüber hinaus als negative Position die Nettoneuverschuldung öffentlicher Haushalte ein und positiv die öffentlichen Ausgaben zum ökologischen Umbau der Wirtschaft.”

JedeR kann selbst prüfen, ob diese Annahmen sinnvoll sind. Interessant ist das Ergebnis der Berechnungen von BNE und NWI seit 1990 (siehe Abbildung).

Die FU Berlin teilt auf ihrer Internetseite (siehe auch hier) mit:

„Im November 2011 haben die Urheber des ‚Nationalen Wohlfahrtsindex‘ (NWI) von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und dem Forschungszentrum für Umweltpolitik der FU Berlin (FFU) den NWI erstmals fortgeschrieben. Es handelt sich dabei um eine andere Sichtweise auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bzw. Bruttonationaleinkommen (BNE); diese soll das BIP nicht ersetzen, jedoch kommt man im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung zu einer anderen Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland.”

BNE-NWI

und bewertet die Ergebnisse (siehe roter Kreis) folgendermaßen:

„Die Berechnung des monetären Indexes führt mit den neuen Werten für die Jahre 2008 und 2009 zu bemerkenswerten Ergebnissen: Der NWI wird 2008 und 2009 durch die Finanz- und Wirtschaftskrise erheblich weniger beeinflusst als BNE und BIP. Gerade von 2008 bis 2009 ist ein drastischer Rückgang beim BNE zu verzeichnen, während der Wohlfahrtsindex in diesem Zeitraum dagegen sogar leicht ansteigt. Die Ergebnisse des NWI für Deutschland für 2008 und 2009 zeigen zum einen, dass die Wirtschaftskrise in diesen Jahren den Konsumbereich weit weniger betroffen hat als den Bereich der Produktion. Die gegenläufige Entwicklung zum BNE lässt sich aber zu einem guten Teil auch darauf zurückführen, dass die im NWI berücksichtigten negativen externen Effekte der Produktion — der Verbrauch von Ressourcen und die Belastung der Umwelt mit Schadstoffen — durch den Rückgang der Wirtschaftsaktivitäten ebenfalls deutlich abgenommen haben.”

So weit, so gut. Betrachten wir den Zeitraum ab 2005, dann stellen wir auch fest, dass (BNE-) Wachstum und Wohlstand gegenläufig sind. Politisch interessant(er) ist der davor liegende Verlauf beider Indikatoren: Kurz, nachdem die rot-grüne Koalition gewählt und die Umsetzung der Agenda 2010 begann („rot-grün II”), ist der Zusammenhang von BNE und NWI endgültig aufgebrochen. Dazu die Studie:

“… erreicht der modifizierte NWI um das Jahr 2000 seinen Höhepunkt und nimmt in den letzten Jahren in der Tendenz wieder ab. Verantwortlich für das Sinken des NWI sind insbesondere die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung und die negativen externen Effekte im Umweltbereich, deren quantitativ größter Posten die Ersatzkosten für den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen darstellen. Positiv eingehende Faktoren, insbesondere der Wert der Hausarbeit und ehrenamtlicher Tätigkeiten, die ebenfalls zunehmen, können dies nicht ausgleichen.”

Bis 2000 galt, dass BIP/BNE-Wachstum noch zu steigendem Wohlstand führt(e). Nahende Ressourcengrenzen und die Politik der Regierung(en) machten dem ein Ende. Durch die CDU/FDP-Regierung wurde die Gegenläufigkeit weiter verschärft.

Fazit der Untersuchungen

  1. Nachhaltige Wohlstandentwicklung ist messbar – mit einem einzigen Indikator! Dieser wissenschaftliche Befund widerspricht dem Ergebnis der Bundestags-Enquetekommission „Wohlstand/Wachstum“.
  2. Wohlstand kann mit dem BNE wachsen. Aus sozialer Sicht innerhalb der BRD wäre, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmten, daher zunächst nichts gegen das BNE-Wachstum zu sagen. Das wäre jedoch sehr oberflächlich.
    Die vorgestellte Berechnung berücksichtigt nur die Bundesrepublik und nicht beispielsweise globale Einkommensunterschiede, für die wir (in der BRD) maßgeblich mitverantwortlich sind, die globale Endlichkeit der Ressourcen oder den Export unserer Umweltprobleme in den Globalen Süden. Derartige Aspekte werden bei der NWI-Bestimmung (2008) als Fragen der (nicht berechneten) ethischen Verantwortung bezeichnet:
    “Nicht zu vernachlässigen ist indessen, dass auch im Falle der Verwendung eines Wohlfahrtsindexes im Rahmen von nationalen Nachhaltigkeitsstrategien zumindest drei Spannungsfelder bestehen bleiben werden: …
    Generell zwischen der ökonomischen, zentral auf das eigene Wohlergehen eines Landes abzielenden Wohlfahrt und einer ethisch motivierten Verantwortung im Umgang mit vorhandenen Ressourcen sowie ökologischen Funktionen der Natur. Ethische Verantwortung schließt außerdem die Berücksichtigung der extrem unterschiedlichen globalen Verteilung des Reichtums und der weltweit höchst unterschiedlichen Nutzung der natürlichen Ressourcen pro Kopf ein.”
    Natürlich ist es fast unmöglich, derartige Berechnungen anzustellen; sicher erscheint aber, dass das Ergebnis keine positive Korrelation, sondern Gegenläufigkeit der beiden Indikatoren ergeben würde.

Rolle des NWI in der Realität

Die Regierungsparteien wehrten sich in der Bundestags-Enquetekommission „Wohlstand/Wachstum“ vehement gegen einen einzigen Indikator.
Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag hat zum Zwischenbericht der Projektgruppe 2 in ihrer Pressemitteilung am 6.3.2012 verkündet:

„Objektivität mit nur einem Indikator erheblich beeinträchtigt
… Der Zwischenbericht der Projektgruppe 2 zeigt deutlich, dass Wohlstand nicht mit einem einzigen Indikator gemessen werden kann. Die Informationsverluste, die bei einer entsprechenden Gewichtung von Daten vorgenommen werden müsste, um zu einem Indikator zu kommen, wären einfach zu gravierend und würden die Objektivität erheblich beeinträchtigen. Mit einem Satz von mehreren Indikatoren kann ein viel differenzierteres Bild vom Wohlstandsbegriff gezeichnet werden, dass neben den materiellen auch die immateriellen Facetten, wie z.B. den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Zugang zu gesundheitlichen Leistungen abdeckt.“

Am gleichen Tag feierte die FDP die Ablehnung eines einzigen Wohlstandsindikators in Ihrer Pressemitteilung mit den Worten:

„Die Bedeutung von Wohlstand ist eine Frage, die jeder Einzelne sehr individuell beantwortet. Mit dem von der Projektgruppe verfolgten Ziel eines Indikatorensatzes etablieren wir daher eine Wohlstandsmessung, die sowohl die notwendige Komplexität der Sache als auch das sehr individuelle Wohlstandsverständnis des Einzelnen abbilden kann. Ein Indikatorensatz ist in seiner Aussagekraft einem einzelnen aggregierten Indikator klar überlegen.“

Die Linie war klar: Je mehr verschiedene Indikatoren, desto unüberschaubarer das Ganze.  Und desto leichter fällt es, einzelne Interessen gegen andere auszuspielen und dabei eigene durchzusetzen. Schon die Diskussion um die Frage ein/wenige oder viele Indikator/en ist eine politische Frage, in der es darum geht: „Weiter so – oder nicht.“
Leider war von den Obleuten DER LINKEN keine Aussage zum  Zwischenbericht der Projektgruppe 2 zu bekommen; meine Anfrage per E-Mail wurde nicht beantwortet…

Der Einschätzung der Wirtschaftswoche, dass die Enquete-Kommission ihre eigene intellektuelle Leere dokumentiert hat, ist nur teilweise zuzustimmen:
Die Tatsache, dass die Enquete-Kommission nichts substantiell Neues zur Frage „Wohlstand/Wachstum“ zustande gebracht hat, ist natürlich beschämend für den kollektiven Intellekt der darin versammelten Mitglieder (nicht unbedingt und nicht in erster Linie für die einzelnen Mitglieder – das entzieht sich meiner Kenntnis).
Die gegenseitige Blockade aus parteipolitischem Kalkül hat dazu geführt, dass das Ganze (=der kollektive Intellekt) nicht mehr, sondern weniger ist, als die Summe seiner Teile.
Vor allem aber ist sie ein Dokument für die Unfähigkeit oder den Unwillen der Regierungsparteien, ein auch zukünftig überlebensfähiges Deutschland zu gestalten. Dazu müssten sie ihre Hörigkeit gegenüber den Kapitalinteressen aufgeben und bereit sein, zusammen mit der Opposition gemeinsame Lösungen zu suchen.

 

Wolfgang Borchardt
10.3.2013

 

Weitere Quellen zum NWI

Projektgruppe 2 „Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikators“

  • Abschlussbericht_PG_2
  • DIE_LINKE_Sondervotum
  • B90DieGrünen_Änderungsantrag
  • “Wohlfahrtsmessung in Deutschland – Ein Vorschlag für einen neuen Wohlfahrtsindex“
    Statusbericht zum Forschungsprojekt FKZ 3707 11 101/01 – Zeitreihenrechnung zu Wohlfahrtsindikatoren – gefördert aus Mitteln des Umweltbundesamtes
    Hauptautoren der Studie waren
    *  Hans Diefenbacher, apl. Professor für Volkswirtschaftslehre am Alfred-Weber-Institut der Universität Heidelberg und stellvertretender Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und
    *  Roland Zieschank, Verwaltungswissenschaftler am Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin und Experte für Indikatorensysteme

 


  1. NWI_II_Aktualisierung_2008_2009_Presseversion_2011 

1 Gedanke zu „Wohlstand und Wachstum sind gegenläufig“

  1. Das „Das Trio der Lebensqualität“ der LINKEN hat den entscheidenden Mangel, dass es wirtschaftliche Entwicklung, Lebensqualität und ökologische Nachhaltigkeit zwar als „Dreieinigkeit“ benennt, sie aber nicht in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zeigt.
    Die Aussage des NWI stellt dagegen eben diesen her und wäre wegen seiner Anschaulichkeit der Bevölkerung auch gut zu vermitteln. Man kann nur vermuten, dass auch der LINKEN die negative Korrelation von „Wirtschaftswachstum“ und Wohlstand nicht geheuer ist. Praktisch tut sie mit ihrem „Trio der Lebensqualität“ ähnliches, wie die Enquetekommission mit ihren 20 Indikatoren, nämlich diesen Zusammenhang zu vernebeln, anstatt ihn offenzulegen.
    Leider zeigt sich dieses Herangehen auch in der praktischen Politik. In Brandenburg, wo die Linke regiert, hat sie z.B. einen Wirtschaftsminister, der die Braunkohle als „Brückentechnologie“ noch für Jahrzehnte festgeschrieben haben will, der sich auch für die Verpressung von Kohlendioxid in den märkischen Sand eingesetzt hat. Alles das ist eben solches „Wirtschaftswachstum“, dass zwar vielleicht begrenzt „Arbeitsplätze“, mittelfristig aber nicht Wohlstand, sondern Verschleuderung von Ressourcen und Lebensqualität bedeutet.
    Die ostdeutschen Spitzenpolitikern der LINKEN Ralf Christoffers, Helmut Holter und Klaus Lederer haben dieser Tage ein „Strukturentwicklungsprogramm einer sozial-ökologischen und demokratischen Entwicklungsperspektive der Regionen“ der Öffentlichkeit vorgelegt. Außer in der Überschrift kommt die ökologische Nachhaltigkeit mit keinem Satz in dem Programm vor. Letztlich will man das Gleiche wie Regierungsparteien und SPD, nur eben viel sozialer. Man will Wachstum durch „Aufbau neuer Wertschöpfungsketten“, selbstverständlich auch Mobilität für alle. Der Ausbau des ÖPNV wird in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht für erforderlich erachtet. Vielmehr geht es nur „um eine andere energetische Basis auch für Mobilität“, wobei der per se ressourcenverschlingende Individualverkehr nicht angetastet wird.
    Wer solche Gedanken pflegt, und das scheint mir noch immer eine Mehrheit in der LINKEN zu sein, kann sich selbstverständlich nicht zu einem einheitlichen Indikator für Wohlstand durchringen.

    Harald Kulhanek
    Chorin

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