Während wir politisieren, überholt uns die Realität

Ein Appell von Matthias Hüttmann1

Die Bundestagswahl ist eine Klimawahl, das haben Sie sicherlich jetzt schon öfter gelesen, auch hier bei uns in den DGS-News wie auch in der SONNENENENERGIE. Viel eindrücklicher als jeder dieser Texte und Aufrufe ist jedoch die Realität, die sich parallel zu all den Diskussionen abspielt. Vier Meldungen, die es allesamt nicht in die großen Medien geschafft haben, malen ein Bild, dass eindrücklicher kaum sein kann.

Während hierzulande ernsthaft darüber diskutiert wird, was uns der Klimaschutz monetär wert ist, eine schon im Ansatz falsch gestellte Frage, findet die Klimakatastrophe längst statt. Sie wartet nicht auf politische Entscheidungen. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass wir immer noch so tun, als wäre die Klimakatastrophe ein Ereignis in ferner oder höchstens naher Zukunft. Was wir momentan erleben, ist das Ergebnis der Versäumnisse der letzten Jahrzehnte. Und dennoch verharren wir immer noch im Diskursmodus, statt in den Handlungsmodus zu wechseln.

Besagte vier Meldungen stellen wir Ihnen kurz vor:

NDC-Synthesebericht

Beginnen wollen wir mit den Vereinten Nationen. In dem vom UNFCCC-Sekretariat (United Nations Framework Convention on Climate Change) veröffentlichten sogenannten NDC-Synthesebericht wird über Fortschritte im Klimaschutz informiert. Er macht deutlich, wie weit die Weltgemeinschaft ihren Zielen hinterherhinkt und was das konkret bedeutet. Der Bericht fasst die Klimaaktionspläne von 113 der 191 Länder zusammen, die das Pariser Klimaschutzabkommen unterzeichnet haben. Er dient auch der Vorbereitung der UN-Klimakonferenz (COP26) im November dieses Jahres in Glasgow.

Das Ergebnis ist ernüchternd, auch wenn der Bericht immer wieder die Erfolge hervorhebt. So wird für besagte 113 Vertragsparteien ein Rückgang der Treibhausgasemissionen um 12 % bis zum Jahr 2030 im Vergleich zu 2010 prognostiziert. Um die Begrenzung des Anstiegs der globalen Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad zu erreichen, wäre laut UN jedoch vielmehr eine Verringerung der CO2-Emissionen um 45 Prozent bis 2030 erforderlich. Eine Verringerung um 25 Prozent bis 2030, so die Prognose, könnte die Erwärmung auf 2 Grad begrenzen. Das durchaus dramatische an dem Bericht: Bei den genannten Zahlen handelt es sich nicht um reale Reduktionen, sondern lediglich um geplante Einsparungen und Ziele. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass bereits die Ambitionen viel zu gering sind. Der Blick nach Deutschland zeigt zudem noch, dass selbst diese Ziele immer wieder in Frage gestellt werden. Aber auch wenn die Klimaaktionspläne tatsächlich 1:1 umgesetzt werden würden, dann käme es, das weist der Bericht ebenso nüchtern aus, zu einem beträchtlichen Anstieg (um etwa 16 Prozent) der globalen Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 im Vergleich zu 2010. Nach den jüngsten Erkenntnissen des IPCC könnte ein solcher Anstieg, bis zum Ende des Jahrhunderts zu einem Temperaturanstieg von etwa 2,7 Grad führen.

Was bedeutet das für Deutschland?

Anlässlich des momentan im Hamburg stattfindenden Extremwetterkongresses wurde von den Meteorologen des Deutschen Wetterdienstes ein Faktenpapier vorgestellt, demzufolge der Klimawandel in Deutschland überdurchschnittlich schnell voranschreitet. Demnach stieg die globale Temperatur seit der Zeit von 1881 bis 1910 im Mittel um etwa 1,1 Grad. In Deutschland waren es fast 1,6 Grad. Außerdem hätten Hitzewellen und Dürren zugenommen. Mit Blick auf die Hochwasserkatastrophe im Juli heißt es, dass die Menge der Niederschläge ohne Klimawandel mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich geringer ausgefallen wäre. Die Experten riefen deshalb dazu auf, schnelle Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen und warnten vor einer lebensfeindlichen Welt, wenn die Menschen weiter auf eine globale Erwärmung von drei Grad zusteuerten. So kommt es laut den Autoren und Herausgebern in Folge der globalen Erwärmung zu starken Veränderungen bei extremen Wetterereignissen:

„Die Prognosen zeigen, dass in Folge regionaler Verlagerungen extreme Wetterereignisse in Gebieten auftreten werden, in denen diese bisher nicht aufgetreten sind. Ebenso kommt es innerhalb von Regionen – wie Deutschland – zu einer Zunahme von extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen und eine Abnahme anderer extremer Wetterereignisse wie beispielweise strenge Fröste. Im Bereich der Niederschläge und der Winde sind die Aussagen differenzierter und weniger eindeutig. In Folge der rasch fortschreitenden Erwärmung des Klimasystems gibt es inzwischen eine deutliche Zunahme extrem hoher Temperaturen, in einigen Gegenden Deutschlands sind langanhaltende Phasen mit Tageshöchsttemperaturen von 30 Grad Celsius und darüber ein neues Phänomen. Es ist davon auszugehen, dass sich die globale Erwärmung mit den hier beschriebenen Auswirkungen in den kommenden Dekaden fortsetzen und damit verschärfen wird. Dieses bewirkt eine zunehmende Neigung zu Tagen mit hohen Temperaturen bei gleichzeitiger Abnahme der Neigung zu Tagen mit niedrigen Temperaturen. Neue Temperaturrekorde werden wahrscheinlicher. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es im Rahmen der natürlichen Variabilität weiterhin auch kalte Winter, kühle Sommer und die Gefahr von Spätfrösten geben wird. Die Wahrscheinlichkeit für diese drei genannten Ereignisse nimmt jedoch in Folge der globalen Erwärmung ab.“

Globale Realitäten

Feuer:

Der Copernicus-Atmosphärenüberwachungsdienst beobachtete diesen Sommer extrem viele Waldbrände in der nördlichen Hemisphäre, vor allem waren Regionen um das Mittelmeer, in Nordamerika und in Sibirien stark betroffen. Die intensiven Brände stellten neue Rekorde im Datensatz des Überwachungsdienstes auf. So hatten der Juli und August wegen der Brände jeweils die höchsten Monatswerte bei den weltweiten CO2-Emissionen. Der Juli war ein Rekordmonat mit global emittierten Emissionen von 1.258,8 Megatonnen CO2. Über die Hälfte davon entstammte den Bränden in Nordamerika und Sibirien. Im August gelangen geschätzte 1.384,6 Megatonnen CO2 in die Atmosphäre. Allein in der Arktis wurden durch Flächenbrände im Zeitraum von Juni bis August insgesamt 66 Megatonnen CO2 emittiert. Die geschätzten CO2-Emissionen durch alle Brände in Russland erreichten von Juni bis August etwa 970 Megatonnen, davon fielen allein 806 Megatonnen auf die Regionen Jakutien und den autonomen Bezirk der Tschuktschen. Die in den westlichen Regionen Nordamerikas zwischen Juli und August wütetenden großflächigen Brände betrafen mehrere kanadische Provinzen, sowie die pazifischen Weststaaten Amerikas, inklusive Kalifornien. Das sogenannte „Dixie-Fire“ im Norden Kaliforniens war eines der schwersten Feuer in der Geschichte des Bundesstaates. Die entstehende Verschmutzung durch die anhaltenden, intensiven Brände beeinträchtigte die Luftqualität tausender Menschen in der Region.

Meeresspiegel:

Auch hier meldet Copernicus – in der fünften Ausgabe seines Ocean State Reports – äußerst alarmierendes: Die Erwärmung der Ozeane und das schmelzende Landeis führen mittlerweile zu einem Anstieg des Meeresspiegels von 3,1 Milimeter pro Jahr, während die Ausdehnung des arktischen Meereises stetig abnimmt. Die Arktis hat laut der aktuellen Daten zwischen 1979 und 2020 eine Meereisfläche verloren, die in etwa der sechsfachen Größe Deutschlands entspricht. Auch stehen die extremen Schwankungen aufgrund von Hitze- und Kältewellen in der Nordsee im direkten Zusammenhang mit Veränderungen des Fischfangs, insbesondere von Seezunge, europäischem Hummer, Seebarsch, Meerbarbe und Taschenkrebs. Dazu führen Verschmutzungen durch Industrie und Landwirtschaft zur Eutrophierung der Meere und beeinträchtigen die empfindlichen Ökosysteme. Die Erwärmung der Ozeane und der steigende Salzgehalt des Mittelmeers haben sich in den letzten zehn Jahren verstärkt. Mehr als beunruhigend ist, dass allein die Erwärmung des arktischen Ozeans schätzungsweise zu fast 4 Prozent zur globalen Erwärmung der Ozeane beiträgt.

Insgesamt nehmen sowohl die Oberflächentemperaturen der Meere als auch die Temperatur in tieferen Wasserschichten weltweit zu, was zu einem rasanten Anstieg des Meeresspiegels führt. Im Mittelmeerraum beträgt der Anstieg momentan rund 2,5 Milimeter pro Jahr. Dabei kam es beispielsweise in Venedig im November 2019 zu einer starken Springflut und aufgrund extremer regionaler Wetterbedingungen zu außergewöhnlichen Flutspitzen, einem sogenannten Acqua-Alta-Ereignis, bei welchem der Wasserstand auf bis zu 1,89 Meter anstieg. Dies war der höchste Wasserstand seit 1966, mehr als 50 Prozent der Stadt wurden überflutet.
Die Verschmutzung durch Nährstoffe aus landbasierten Aktivitäten wie Industrie und Landwirtschaft hat verheerende Auswirkungen auf die Wasserqualität der Ozeane. Zunehmende Eutrophierung führt zu vermehrtem Pflanzenwachstum, was zu einem geringeren Sauerstoffgehalt im Meerwasser führen und sogar das natürliche Sonnenlicht blockieren kann. Das hat oft schwerwiegende Auswirkungen auf die Küstenumwelt und die Artenvielfalt im Ozean.

Fazit

Unabhängig davon, wie wir Deutschen unser Parlament wählen werden: Es gibt keine größere Dringlichkeit, keine größere Herausforderung als den Klimaschutz, die angegangen werden muss. Es muss zu einem parteiübergreifenden Konsens kommen. Wir alle, allen voran der Bundestag, müssen „in die Pötte kommen“. Denn, es ist noch nicht zu spät, oder um es mit den Worten des renommierten Klimaforschers Michael E. Mann (siehe auch Beitrag in diesen News) zu sagen:

„There is both urgency and agency“
(„Es besteht sowohl Dringlichkeit als auch Handlungsfähigkeit“).

Wir müssen einfach machen (das ist wie wollen, nur krasser).


  1. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie – DGS; Quelle: https://www.dgs.de/news/en-detail/240921-waehrend-wir-politisieren-ueberholt-uns-die-realitaet/